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       # taz.de -- Filmfestspiele mit Monotonie und Lakonie: „Es ist schon wieder September“
       
       > Große Gegensätze beim Wettbewerb von Venedig. Auf der einen Seite
       > ausgedehntes Leid, auf der anderen kurz, knapp und lakonisch: die
       > Unendlichkeit.
       
   IMG Bild: Sein Charakter hat im Film „Der bemalte Vogel“ nicht viel zu lachen: Schauspieler Petr Kotlár
       
       Venedig taz | Manche Filmfestivaljahrgänge müssen ja damit kämpfen, dass
       Regisseure ihre Filme gern etwas länger haben. Was man niemandem vorwerfen
       kann. Superheldenspektakel sind dieser Tage kaum noch unter zweieinhalb
       Stunden zu haben, da sollte man Autorenfilmern keine Vorschriften machen,
       wie ausführlich sie ihre Geschichten erzählen. Zumal für digitale Bilder
       keine teuren Filmnegative mehr nötig sind. Die daraus resultierenden Dauern
       in einem [1][Festivalprogramm] zu stemmen, ist logistisch jedoch keine
       Kleinigkeit.
       
       In Venedig sind die Beiträge im Wettbewerb dieses Jahr nicht übermäßig
       lang, in der Regel dauern sie zwei Stunden. Allein der tschechische
       Regisseur Václav Marhoul liegt mit „The Painted Bird“ deutlich über dem
       Durchschnitt. Knapp drei Stunden lang ist das Leiden eines jüdischen Jungen
       in Polen während des Holocausts zu sehen, wie er auf dem Land von einem
       Unterschlupf zum nächsten irrt und sich ein Abgrund menschlicher
       Schlechtigkeit nach dem anderen für ihn auftut.
       
       Die Handlung – Vorlage ist der Roman „Der bemalte Vogel“ von Jerzy Kosiński
       – ist in Kapitel unterteilt, benannt nach den Personen, die den zunächst
       namenlosen Jungen aufnehmen, den der Kinderdarsteller Petr Kotlár mit
       erbarmungswürdig flehendem Blick und äußerst wortkarg gibt. Freundlich
       begegnet ihm auf seinem Weg kaum ein Mensch, und wer es doch tut, verfolgt
       meist eine Absicht, die klar zum Nachteil des Jungen ist.
       
       In kontrastreichem Schwarz-Weiß gedreht, kontrastiert der Film zugleich
       seine idyllischen Landschaftsbilder mit zum Teil sehr explizit gehaltenen
       Darstellungen von menschlicher Niedertracht. Neben den vorwiegend
       tschechischen Darstellern sind als internationale Stars Udo Kier, Stellan
       Skarsgård und Harvey Keitel in kleineren Rollen zu erleben. Sie alle machen
       ihre Sache gut. Ob es aber notwendig war, diese bei aller Grausamkeit von
       der Dramaturgie her doch recht monotone Erzählung so detailliert
       auszudehnen, bleibt die Frage. Viele Zuschauer verließen denn auch recht
       bald die Pressevorführung.
       
       ## Es geht auch kürzer
       
       Man kann die Nöte des Menschen andererseits sehr wohl in aller
       Unbarmherzigkeit schildern, ohne sein Publikum im Stil von Marhoul zu
       foltern. Und das sogar kurz und knapp. Der schwedische Regisseur Roy
       Andersson hat genau das mit seinem, dem kürzesten Wettbewerbsfilm, getan.
       „Om det oändliga“ (About Endlessness) dauert 76 Minuten. Und weiß diese
       Zeit weit besser zu nutzen.
       
       Wie in seinen Arbeiten zuvor pflegt Andersson seinen markanten Stil mit
       weiß geschminkten Darstellergesichtern, ausgeblichenen Farben und festen
       Kameraeinstellungen. In den Szenerien, die er zeigt, herrscht viel Stasis
       vor. Die meisten Menschen im Bild rühren sich nicht, andere sprechen, wenn
       sie sprechen, in der Regel wortkarg. Ein Paar etwa sitzt zu Beginn auf
       einer Parkbank, den Blick vom Publikum weg über das Panorama einer Stadt im
       Hintergrund gerichtet. Ein Gänseschwarm fliegt über sie hinweg. Die Frau
       sagt: „Es ist schon wieder September.“ Er erwidert: „Hm.“
       
       So eine Lakonie muss man mögen. Andersson berührt in seinen grotesken
       Anordnungen allerdings stets existenzielle Dinge: Liebe, Todesangst, Neid,
       Verzweiflung. Freude gibt es mitunter ebenfalls, in kleinen Dosen. Das
       Komische dieser Miniaturen liegt weniger in dem, was passiert, als in dem,
       was nicht passiert. Und davon gibt es eine Menge. Wie den Mann, dessen
       Wagen liegen geblieben ist und der ratlos seinen Motor untersucht. Für den
       Zuschauer ereignet sich nicht viel. Für ihn hingegen, dessen Lauf abrupt
       unterbrochen ist, mehr als genug. Ein weiterer Höhepunkt.
       
       5 Sep 2019
       
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