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       # taz.de -- Machtkampf in Großbritannien: Kurz vor Brexit neue Wahlen?
       
       > Boris Johnson will die Kontrolle über den Brexit nicht an das Parlament
       > verlieren. Dafür opfert er sogar den Zusammenhalt der eigenen Partei.
       
   IMG Bild: Premierminister Boris Johnson bei seiner ersten und vielleicht letzten Fragestunde im Parlament
       
       Als Boris Johnson [1][am 24. Juli] kurz vor den Sommerferien britischer
       Premierminister wurde, verfügten seine Konservativen zusammen mit dem
       nordirischen Unterhaus über eine Mehrheit im Parlament von drei Sitzen –
       hauchdünn, aber immerhin. Drei parlamentarische Sitzungstage später, in der
       Nacht zum 4. September, hat sich Johnsons Mehrheit [2][in eine Minderheit
       von 43 Sitzen verwandelt]. Unter keinen Umständen kann er damit noch normal
       regieren. An allen normalen Maßstäben gemessen ist Boris Johnson nach einem
       furiosen Start furios gescheitert.
       
       Das findet er selbst auch, und daher forciert der Premier jetzt sofortige
       Neuwahlen. Sie sollen, wie er am Mittwoch mehrmals im Unterhaus verlangte,
       am 15. Oktober stattfinden – der zunächst ins Spiel gebrachte 14. Oktober
       scheidet als jüdischer Feiertag aus. Es wäre, unüblich, aber nicht
       unerlaubt, ein Dienstag – pünktlich zum EU-Gipfel am folgenden Wochenende
       wäre dann entweder Boris Johnson als glorreicher Sieger im Amt bestätigt,
       oder Jeremy Corbyn dürfte als frisch gebackener Labour-Regierungschef nach
       Brüssel fahren.
       
       Den Antrag auf Neuwahlen stellte Johnson im Unterhaus am späten
       Dienstagabend, als direkte Reaktion [3][auf seine Niederlage] bei einer
       Schlüsselabstimmung über die Kontrolle der Tagesordnung des Unterhauses am
       nächsten Tag mit 328 zu 301 Stimmen. Wegen dieser Niederlage konnten
       Johnsons Gegner am Mittwochnachmittag ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit
       am 31. Oktober einbringen, dessen Annahme durch die Abgeordneten als
       wahrscheinlich galt.
       
       Mit dem Neuwahlvorstoß – über den keine schnelle Entscheidung erwartet
       wurde – will Boris Johnson diesem Gesetz den Wind aus den Segeln nehmen.
       Gewinnt er die Wahl, kann er das Gesetz umgehend wieder kippen. Aus seiner
       im Parlament vorgebrachten Sicht ist das „Kapitulationsgesetz“, das die
       Hoheit über den Brexit einer „Corbyn-Junta“ überträgt, ein Akt der Sabotage
       an seiner Brexit-Verhandlungsstrategie. Er meint die EU nur dann von der
       Notwendigkeit eines neuen Brexit-Deals ohne den dreimal vom Parlament
       verworfenen Nordirland-Backstop überzeugen zu können, wenn als zwingende
       Alternative der Austritt ohne Deal auf dem Tisch liegt.
       
       ## Corbyn zögert
       
       Wenn Corbyn von seinem eigenen Vorgehen so überzeugt sei, solle er doch den
       Wählern die Entscheidung an der Wahlurne am 15. Oktober überlassen, brüllte
       Johnson in der parlamentarischen Fragestunde am Mittwoch. Seinem Gegenüber
       unterstellte er, ein ängstliches Huhn zu sein: „Ich kenne nur ein
       Chlorhühnchen in diesem Raum, und es sitzt da drüben auf der Bank.“
       
       [4][Denn Corbyn zögert], was schnelle Neuwahlen angeht. Zwar demonstrieren
       die Anhänger des Labour-Chefs draußen auf der Straße für Neuwahlen und
       gegen den „ungewählten“ Premier und „Diktator“ Johnson, und Labour sammelt
       im Internet Unterschriften für Neuwahlen. Aber Neuwahlen vor dem 31.
       Oktober würden das Gesetz gegen den No-Deal killen, sofern Johnson die
       Wahlen gewinnt. Deswegen verlangte Corbyn in der Nacht zum Mittwoch: „Erst
       das Gesetz durchbringen, damit der No-Deal vom Tisch ist.“
       
       Das allerdings ist auch ein Eingeständnis, dass Labour nicht mit einem
       Wahlsieg rechnet. Seit Johnsons Amtsantritt schießen die Umfragewerte der
       Konservativen nach oben, während Labour sich auf dem zweiten Platz nur mit
       Mühe von den eindeutig proeuropäischen Liberaldemokraten absetzt.
       
       Zwei diese Woche veröffentlichte Umfragen geben den Konservativen 35
       Prozent, gegen 24 bis 25 Prozent für Labour und 16 bis 18 Prozent für die
       Liberaldemokraten.
       
       Die radikale Brexit Party von Nigel Farage liegt bei 11 bis 14 Prozent –
       ein mögliches Wählerreservoir für Johnson für den Fall, dass ein Wahlkampf
       zwischen „No Deal mit Boris Johnson“ und „No Brexit mit Jeremy Corbyn“
       orchestriert wird.
       
       ## Johnson will Neuwahlen erzwingen
       
       Bei einer solchen Brexit-Wahl hätte Johnson wohl die besseren Karten. Mehr
       Wähler sind laut einer Umfrage aus der vergangenen Woche gegen eine weitere
       Brexit-Verschiebung als dafür. 52 Prozent würden den von [5][Theresa May]
       ausgehandelten Brexit-Deal akzeptieren, wenn gemäß der Forderung Johnsons
       der Backstop – der Großbritannien auf Dauer an die EU-Zollunion bindet –
       gestrichen wird. In der Frage nach dem besten Premierminister liegt Johnson
       mit 45 Prozent weit vorn, Corbyn landet mit 17 Prozent sogar hinter der
       kaum bekannten [6][neuen Chefin der Liberaldemokratin Jo Swinson].
       
       Boris Johnson will nun Neuwahlen auch gegen den Willen der Opposition
       erzwingen. Einfach ist das nicht. Seit dem Jahr 2011 können britische
       Premierminister nicht mehr auf Gutdünken das Parlament auflösen, sondern
       sie brauchen eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten beziehungsweise
       einen Misstrauensantrag, den erst der Premierminister und dann der
       Oppositionsführer verliert.
       
       Eine Mehrheit für Jeremy Corbyn als Premierminister gibt es im Unterhaus
       nicht – nicht einmal seine eigene Partei steht geschlossen hinter ihm.
       Jetzt sorgt Boris Johnson also dafür, dass auch er keine Mehrheit mehr hat,
       damit zu Wahlen keine Alternative bleibt.
       
       Alle 21 Abweichler aus den eigenen Reihen, die bei der Abstimmung über die
       Tagesordnung am Dienstagabend gegen die Regierung stimmten, wurden noch in
       der Nacht aus der konservativen Fraktion geworfen – einen Parteiausschluss
       könnte nur der jeweilige Ortsverein verfügen, da die Konservativen keine
       zentrale Mitgliedschaft haben. Der Rauswurf erfolgte per Textnachricht. Es
       waren fast alles ehemalige Regierungsmitglieder, darunter altgediente
       Schwergewichte wie die Exfinanzminister Philip Hammond und Kenneth Clarke
       oder der Churchill-Enkel Nicholas Soames.
       
       ## Turbulenzen bei den Konservativen
       
       Da schon vorher ein konservativer Abgeordneter zu den Liberaldemokraten
       übergelaufen war, schrumpfte Johnsons Fraktion mit einem Schlag von 311 auf
       289 Mitglieder – und eine Parlamentsmehrheit ist damit außer Reichweite
       geraten.
       
       Nebenbei stürzt Johnson die eigene Partei in schwere Turbulenzen. Nachdem
       vergangene Woche bereits die populäre schottische Chefkonservative Ruth
       Davidson zurückgetreten war, wird nun der als gemäßigt geltende Flügel, der
       sich schon mit Johnsons Aufstieg zum Parteichef nicht wohlfühlte,
       vergrault.
       
       Neuwahlen, schätzten verschiedene Experten am Mittwoch, sind jetzt nur eine
       Frage der Zeit. Von Labour waren im Laufe des Tages widersprüchliche
       Signale zu vernehmen – eine Zustimmung zu Wahlen erst am kommenden Montag
       galt als die wahrscheinlichste Variante.
       
       Damit wird alles sehr knapp. Denn für Neuwahlen am 15. Oktober müsste das
       Parlament spätestens am kommenden Montag aufgelöst werden – zwischen
       Parlamentsauflösung und Wahltermin müssen nach Gesetz mindestens fünf
       Wochen liegen. Der Montag, 9. September, ist der Termin, an dem die
       laufende Parlamentssitzung endet, nach dem vergangene Woche verfügten
       Sitzungsabbruch des Unterhauses durch Johnson. Diese „prorogation“ wurde am
       Mittwoch von einem Gericht für rechtens erklärt und tritt damit in Kraft.
       Wenn das Parlament nicht mehr tagt, kann das Prozedere zu seiner Auflösung
       nicht mehr angeschoben werden.
       
       Das heißt aber auch: Das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit hat nicht viel
       Zeit. Sollte es am Mittwochabend im Unterhaus angenommen worden sein, geht
       es am Donnerstag ins Oberhaus, wo bis Mittwochfrüh bereits 102 einzeln
       einzubringende und abzustimmende Änderungsanträge vorlagen. Mehrere Lords
       richten sich bereits darauf ein, die Nächte im Parlamentsgebäude zu
       verbringen.
       
       Und selbst wenn das Gesetz durch ist: Was Großbritannien am 31. Oktober für
       eine Regierung hat, steht in den Sternen.
       
       4 Sep 2019
       
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       ## AUTOREN
       
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