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       # taz.de -- LGBTQI in Indien: Der Kampf geht weiter
       
       > Seit einem Jahr ist gleichgeschlechtlicher Sex in Indien legal.
       > LGBTQI-Vertreter*innen stehen nun im Medienfokus. Queere Subkultur wird
       > akzeptabel.
       
   IMG Bild: Kolkata Pride im vergangenen Juni
       
       Mumbai taz | „Die letzten fünf Jahre waren für uns wie eine kleine
       Revolution gegen die Regierung, gegen alle“, sagt Unternehmerin Susan Dias.
       Die 32-Jährige mit Kurzhaarfrisur sitzt im Innenhof ihres Coworking Space
       in Mumbais Vorort Versova. Vor einem Jahr wurde in Indien
       gleichgeschlechtlicher Sex entkriminalisiert.
       
       Dias aber geht weiter zurück, ins Jahr 2013. Da wurde per Revision beim
       obersten Gerichtshof ein Urteil aufgehoben, das gleichgeschlechtlichen Sex
       als nicht strafbar eingestuft hatte. Seit diesem Urteil galt in Indien
       wieder das britisches Kolonialrecht von 1861. Diesem zufolge drohten
       allen, die im Verdacht standen, „unnatürlichen Sex“ zu haben, bis zu zehn
       Jahre Gefängnis. Erst mit dem Urteil im September 2018, das die
       Strafbarkeit homosexueller Handlungen für verfassungswidrig erklärte, waren
       auf einmal 5.000 Anzeigen hinfällig.
       
       Endlich konnte Dias ihren Eltern sagen: So wie sie lebt und liebt, verstößt
       sie nicht gegen das Gesetz, es ist Recht. Das war eine längst überfällige
       Bestätigung für sie und ihre Lebenspartnerin. Noch am Tag der
       Urteilsverkündung brachte sie eine Regenbogenflagge im Hof neben der
       Bürotür an. Die Leute sollten sehen, dass hier ein queer-freundliches Team
       arbeitet. Nach dem historischen Urteil fiel ihr auf, dass Marken sich
       plötzlich auch der Regenbogenfarben annehmen. „Queere Subkultur wird
       kommerziell akzeptabel“, stellt Dias fest.
       
       ## Rechtslage für Erpressungen ausgenutzt
       
       Für die Gesetzesänderung wurde an vielen Fronten gekämpft. Zu den
       Antragsteller*innen auf Revision des berüchtigten Paragrafen 377 des
       Strafgesetzbuchs gehörte Harish Iyer aus Mumbai. Noch vor einem Jahr hatten
       viele bei dem stadtbekannten Aktivisten Rat gesucht. Denn oft wurde die
       Rechtslage aus der Kolonialzeit für Erpressungen ausgenutzt. Allein 2016
       wurden über 2.000 Anzeigen registriert, vor allem in den nördlichen
       Bundesstaaten. Doch am vergangenen Freitag, dem Jahrestag der
       Legalisierung, wurde im nordindischen Lucknow wie im Süden in Mumbai
       gefeiert. „Happy Independence Day to all Queeristanis“, twitterte Iyer zu
       diesem Anlass.
       
       In den Tagen und Monaten nach der Entkriminalisierung wurde die
       Regenbogenfahne so oft wie noch nie gehisst. Große Firmen wie Medienhäuser
       interessierten sich plötzlich für die queere Community. „Früher mussten wir
       die Zeitungen ansprechen, heute kommen sie auf uns zu“, sagt Syed Raza,
       Mitorganisator der Awadh Pride Parade in Lucknow. „Auch die Medien sind
       viel inklusiver.“ Das bemerke er gerade bei den Lokalzeitungen, die nun
       Begriffe wie LGBTQ verwenden. Das kannte er zuvor nur aus der
       englischsprachigen Presse, die aber nur von den Bessergestellten im Land
       gelesen wird.
       
       In der Bevölkerung sind die Unterschiede zwischen trans, bi und queer oft
       nicht geläufig, erklärt Raza. Männer, die weiblich wirken, werden abwertend
       „Hijras“ genannt. Dabei bezeichnet der Begriff „Hijra“ ein drittes
       Geschlecht, wird aber auch als Selbstbezeichnung von trans Frauen
       verwendet, die sich in Lebensgemeinschaften organisieren und ihre eigenen
       Sitten pflegen. Von der Gesellschaft ausgeschlossen, verdienen sie ihren
       Unterhalt oft mit Tanzen, Almosen oder Sexarbeit. Doch sie bilden nur einen
       Teil des südasiatischen Regenbogenspektrums.
       
       ## Erste trans Frau im Parlament
       
       Doel Rakshit sieht es als Problem an, dass Hijras immer noch sehr negativ
       wahrgenommen werden. Die junge trans Frau, die als Texterin in Mumbai
       arbeitet, beschäftigt sich viel mit dem Thema. Sie betont, dass Hijras
       schon in frühen Hindu-Schriften auftauchten, wo sie den Gott Rama
       begleiteten. Unter den Briten wurden sie an den Rand gedrängt. Rakshit
       sucht nach neuen Vorbildern. In den Vororten der Millionenmetropole genießt
       sie die Offenheit, die der Einfluss der Kreativszene mit sich bringt, mit
       Menschen, die dem Rest des Landes eine andere Version von Indien vorleben.
       
       Dennoch überlegt auch sie, was sie trägt, wenn sie sich aus ihrem Kreis
       hinausbewegt. Sie weiß, dass von der aktuellen Regierung nicht viel
       Unterstützung zu erwarten ist. Im Gegenteil: Die Regierungspartei BJP hielt
       sich zur Entkriminalisierung bedeckt. Im letzten Jahr sagte einer ihrer
       hochrangigen Politiker, Subramanian Swamy, noch, dass Homosexualität
       „nicht normal“, also nicht mit der hinduistischen Ideologie seiner Partei
       vereinbar sei. Vonseiten der indischen Armee kamen ähnliche Aussagen.
       
       Mit den Parlamentswahlen im Frühsommer drehte sich die Stimmung. Rakshit
       witterte Aufbruch. Noch nie waren so viele trans Frauen auf einmal im
       politischen Kontext sichtbar. Wie aus dem Nichts tauchten sie als
       offizielle Wahlbotschafter*innen, Parteisprecher*innen und
       Kandidat*innen auf. Vor 20 Jahren sah das noch ganz anders aus. Damals
       wurde Shabnam Mausi als erste trans Frau in ein Regionalparlament gewählt.
       Später versuchte sie an der damals regierenden Kongresspartei anzudocken.
       Ohne Erfolg. Heute hat der Frauenflügel der Kongresspartei mit der
       Ex-Journalistin Apsara Reddy eine prominente trans Frau als Sprecherin.
       
       „Eine trans Person im Parlament macht einen Unterschied“, sagt Rakshit.
       Denn trotz der gesetzlichen Anerkennung des dritten Geschlechts seit 2014
       ist Diskriminierung in der Gesellschaft wie am Arbeitsplatz weiter ein
       Problem. Während der fünfwöchigen Wahlphase fieberte sie mit, ob es eine
       der trans Kandidat*innen ins Parlament in Delhi schaffen würde. Doch über
       eine Million Menschen pro Wahlkreis mit seiner Botschaft zu erreichen, ist
       schwer. Für unabhängige Kandidat*innen wie Sneha Kale, die ihr Glück in
       Mumbai versuchte, war das eine fast unmögliche Angelegenheit.
       
       In kleinen Schritten geht es dennoch in Richtung Gleichberechtigung. Im Mai
       dieses Jahres wurde die erste legale Ehe zwischen einer trans Frau und
       einem Mann geschlossen. Dem Aktivisten Raza, der das Geschehen beobachtet,
       reicht das nicht. Er will die Ehe für alle. Doch er sagt auch: „Gerade in
       Lucknow hat sich einiges getan.“ Der queere Muslim wird zu Vorträgen an der
       Universität eingeladen, Firmen haben Interesse. Das sieht nach anderen
       Zeiten aus als 2001 bei der Verhaftung und Misshandlung des LGBT-Aktivisten
       Arif Jafar in Lucknow wegen „Förderung von Homosexualität“ gemäß Paragraf
       377. Doch Raza weiß, dass vor allem im Norden viele noch patriarchalen
       Strukturen anhängen.
       
       ## Lesbische Liebe in Bollywood
       
       Dort, wo sich die queere Community öffnet, sieht Raza Erfolge. Mit seinem
       Verein geht er deshalb auf Menschen zu. Sie veranstalten offene Events, bei
       denen Neugierige all ihre Fragen stellen können – in einem Land, in dem
       Sexualität weitestgehend tabuisiert ist. Neben dem Recht, zu heiraten,
       fordert er Gleichberechtigung bei der Adoption von Kindern. Beides bricht
       mit dem traditionellen Familienbild. Hinzu kommt, dass seit dem
       Machtantritt der hindunationalistischen Volkspartei BJP die
       gesellschaftlichen Spannungen wachsen: Hindus gegen Muslime, Arm gegen
       Reich – und zu spüren bekommen das besonders Minderheiten.
       
       „Durch die Entkriminalisierung von Homosexualität hat sich die Stimmung
       verbessert“, so Rakshit. „Wir kommen jetzt im Mainstream an.“ Bollywood
       zeigte jüngst einen Film mit einer lesbischen Liebesgeschichte. Guru Neeta
       Keene, Kopf der Hijra-Familie Kinnar Asmita in Mumbai, bleibt dennoch
       skeptisch, was Gleichberechtigung angeht. Die soziale Spaltung nimmt sie
       auch im queeren Spektrum wahr. Sie und ihre Schüler*innen leben nicht nur
       geografisch in einer anderen Welt als die queere Mittelklasse Mumbais, die
       im Hotelclub zu Drag Shows feiert.
       
       Dias setzt trotzdem darauf, dass sich mehr Menschen mit Einfluss outen. Die
       Community profitiere von Persönlichkeiten wie dem Hotelier Keshav Suri, der
       Gastgeber queerer Clubnächte und Drag Races ist. Wenn es möglich ist, ein
       anderes Bild von queeren Menschen zu zeigen, kann ein Wandel in der
       Gesellschaft stattfinden – vielleicht schon mit den nächsten Wahlen in fünf
       Jahren.
       
       9 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Natalie Mayroth
       
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