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       # taz.de -- Waldorfschulen werden 100 Jahre alt: Auswärts beliebt, zuhause umstritten
       
       > Im Ausland sind Waldorfschulen äußerst populär. In Deutschland scheiden
       > sich an ihnen die Geister. Ein Glückwunsch zum Jubiläum.
       
   IMG Bild: Darauf ein Schälchen Waldorfsalat! Eingang zur Freien Waldorfschule Uhlandshöhe
       
       Waldorfschulen lassen sich am besten mit der deutschen Band Rammstein
       vergleichen. Im Ausland sind sie äußerst beliebt, in Deutschland scheiden
       sich an ihnen gehörig die Geister. Wer brachialen Metal als seinen
       bevorzugten Musikgeschmack ausweist, wird gern mal schief angeguckt. Und
       wer seine Kinder auf eine Schule schickt, auf der technische Geräte verpönt
       sind [1][und Kinder ihren Namen tanzen], gilt halt mitunter als weltfremd.
       So ist das nun mal.
       
       Dabei gibt es gute Gründe, warum aus der Waldorfschule – gleich hinter
       Friedrich Fröbels Erfindung des Kindergartens – ein zweiter
       Bildungsexportschlager geworden ist.
       
       Nach exakt hundertjährigem Bestehen – an diesem Samstag jährt sich die
       Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart Uhlandshöhe – gibt es rund
       um den Globus über 1.100 anerkannte oder vom Gründer Rudolf Steiner
       inspirierte Schulen. In rund 80 Ländern findet man die Waldorfpädagogik,
       die bis zur 12. Klasse ohne Noten auskommt und statt nach Fächern in
       „Epochen“ unterrichtet.
       
       Selbst in Ländern wie China, dessen Schulmodell auf extremen Leistungs- und
       Wettbewerbsdruck basiert, gibt es überzeugte Waldorf-Anhänger. Genauso in
       Israel, wo man eigentlich ein Problem mit Steiners antisemitischem Weltbild
       haben müsste.
       
       So vertrat Steiner die Ansicht, dass „das Judentum als solches […] keine
       Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens“ habe. Aber das ist eine
       andere Geschichte. Glaubt man denen, die ihre Schulzeit auf einer
       Waldorfschule verbracht haben, spielt Steiners Menschenbild im Unterricht
       ohnehin keine Rolle mehr.
       
       Stattdessen berichten viele Waldorf-Absolventen von einer Atmosphäre, die
       man sich an einer staatlichen Schule beim besten Willen nicht vorstellen
       kann: in der Lernen nicht kontrolliert, Leistung nicht verglichen, Fehlen
       nicht sanktioniert wird. In der Lehrer Schülerhirne nicht unaufhörlich mit
       Wissen zumüllen, sondern zu gleichen Teilen auch die emotionale Entwicklung
       und die handwerklichen Fertigkeiten im Blick haben. In der Kinder und
       Jugendliche ermutigt werden, ihre eigenen Ideen und Projekte zu
       verwirklichen.
       
       ## Weg vom Leistungsprinzip
       
       Waldorf-Schüler bauen Lehmhäuser, veredeln Obstbäume, züchten Bienenvölker,
       binden Bücher, spielen Theater oder machen tagelange Boots- oder
       Fahrradreisen. Beschäftigungen, die an staatlichen Schulen bestenfalls nach
       dem Unterricht stattfinden. Vorausgesetzt, es findet sich ein Lehrer oder
       eine Lehrerin, die sich die Zeit dafür nimmt.
       
       In dieser Hinsicht könnten sich alle staatlichen Schulen eine dicke Scheibe
       vom Prinzip Waldorf abschneiden. Den Schülern würde die Schulzeit definitiv
       mehr Spaß machen. Und sie würden vermutlich früher herausfinden, wo ihre
       Stärke liegen, was sie motiviert und was sie mit ihrem Leben anfangen
       wollen. Ganz klar: Mehr Waldorf würde allen Schulen guttun.
       
       Denn das hieße: weg vom Leistungsprinzip, das schon Grundschülern einflößt,
       ja nicht zu den Schlechten zu gehören, die vom Lehrer nicht geliebt und von
       den Mitschülern gehänselt werden. Weg vom traditionellen Lehrplan, der
       einem – mit Ausnahme des Dreisatzes, Fremdsprachen und des Pokerfaces kurz
       vor dem Ausfragen zu Stundenbeginn – wenig Brauchbares fürs Leben
       beibringt. Weg von einer überfüllten Stundentafel, die erst in der
       Oberstufe etwas Platz für eigene Schwerpunkte und persönliche Entfaltung
       lässt.
       
       Wieder vorausgesetzt, man schafft es auf ein Gymnasium oder wohnt
       glücklicherweise in einem jener Bundesländer, das ein längeres gemeinsames
       Lernen auf einer Gemeinschaftsschule erlaubt – und damit die Chancen für
       bestimmte soziale Schichten erhöht, es doch noch aufs Gymnasium zu packen.
       
       ## Ursprünglich für alle, heute exklusiv
       
       Das Beste aber ist: Die Vorzüge der Waldorfschulen wären ohne
       Leistungseinbußen zu haben. An den 245 deutschen Waldorfschulen macht rund
       jeder Zweite sein Abi – also genauso viele, wie an staatlichen Schulen Abi
       und Fachabi zusammen schaffen. Wobei die hohe Abiquote an den
       Waldorfschulen auch bestimmt mit ihrer Klientel zu tun haben dürfte:
       Bildungsbürgertum mit dem entsprechenden finanziellen Spielraum. Und genau
       da liegt die größte Schwäche der Waldorfschulen: ihre Exklusivität.
       
       Ursprünglich wollte ein schwäbischer Zigarettenfabrikant vor hundert Jahren
       mit dem Bau der ersten Waldorfschule erreichen, dass alle Kinder seiner
       Fabrikarbeiter die Schule besuchen können. Egal welcher Schicht sie
       angehören oder welchen Beruf sie später ergreifen wollen (oder müssen). Man
       kann sagen, die Waldorfschule ist die erste Gemeinschaftsschule
       Deutschlands.
       
       Doch leider ist sie heute das Gegenteil, nämlich eine Privatschule, die
       sich nicht alle leisten können. Und die auch nicht alle Schüler nimmt, wie
       eine Berliner Waldorfschule Anfang des Jahres bewiesen hat. Wobei man dem
       Kind [2][in diesem Fall] (der Vater ist AfD-Politiker) nur eine besonders
       gute und ganzheitliche Ausbildung wünschen kann. Aber sei’s drum. Die
       Waldorfschule ist jedenfalls zu einer exklusiven Sache geworden. Und damit
       passt sie – zumindest, was die Chancengerechtigkeit angeht – ziemlich gut
       zum staatlichen Bildungssystem. Trotzdem herzlichen Glückwunsch!
       
       6 Sep 2019
       
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