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       # taz.de -- Ausstellung „Snap Your Identity“: Riskante Lebensführung
       
       > Wann ist ein Gesicht ein menschliches Gesicht? Der Kunstverein Wolfsburg
       > untersucht die Veränderungen des Menschenbildes in digitalen Zeiten.
       
   IMG Bild: Manja Eberts interative Face Tracking-Installation „i'll be there“
       
       Wolfsburg taz | Das Thema Gesichtserkennung ist der zentrale Aspekt der
       Ausstellung „Snap Your Identity“ im Kunstverein Wolfsburg, die sich
       Ich-Konstruktionen in der digitalen Welt widmet. Nach eigenen Angaben ist
       sie die erste institutionelle Schau, die, einem kunsthistorischen Rückblick
       gleich, den Veränderungen des Menschenbilds durch neue Bildtechnologien und
       Transformationsmöglichkeiten nachspüren will.
       
       Wie immer in Wolfsburg philosophisch untermauert, dient eine etwas ältere
       Erkenntnis der Philosophin Juliane Rebentisch zu den Risiken einer Kultur
       und Lebensführung auf Basis individualisierter Freiheiten als theoretisches
       Fundament. „An die Stelle der Ethik tritt eine individuelle Ästhetik der
       Existenz; an die Stelle der Politik tritt deren spektakuläre Inszenierung“,
       zitiert Kunstvereins-Leiter Justin Hoffmann und spannt so den Bogen zur
       Gesellschaft.
       
       Ganz praktisch demonstriert Manja Ebert eine Face-Tracking-Software. In
       ihrer 2018 entstandenen Arbeit „I’ll be there“ erfasst sie in Echtzeit den
       Betrachter. Auf drei Monitoren, wie ein Flügelaltar arrangiert, wird das
       aufgenommene Gesicht durch allerlei Knotenpunkte und Vektoren zerlegt und
       vermessen, die neben biometrischer Erfassung und Überwachung wohl auch zu
       grafischer Bildumwandlung eingesetzt werden könnten.
       
       Soweit geht Ebert aber nicht, man kann stattdessen auf einem
       berührungssensiblen Pad einen von 24 Audiofiles auslösen. Allerdings, sagt
       Ebert, gebe es keinen inhaltlichen Zusammenhang zwischen erkanntem Gesicht
       und zugeordneter Musik. Hier schlägt einfach nur der Zufall zu. Trotzdem
       wird jede*r nicht eingeweihte Betrachter*in über die vermeintliche Auswahl
       des „Systems“ überrascht sein, eine subtile Relation zwischen sich, dem
       erfassten Antlitz und dem Song vermuten.
       
       ## Die Augenpartie als Schlüsselmerkmal
       
       Gleich ganz handfest stellt Johanna Reich die Gesichtserkennungssoftware
       auf die Probe. Sie knetet in Ton gesichtsähnliche Formen, die sie beim
       Werkeln überprüfen lässt. Es scheint, dass die Augenpartie so etwas wie ein
       Schlüsselmerkmal der menschlichen Physiognomie ist, denn fünf beigestellte,
       erkannte Formen weisen diese markant und eindeutig auf.
       
       Ungleich radikaler und technisch enorm aufwändig sind die Arbeiten der in
       Wien lebenden Italienerin Martina Menegon. Sie ist dort
       Universitätsassistentin für „Transmedia Art“ und katapultiert einen etwa
       per entsprechendem Headset in eine virtuelle Realität. Dort ist man dann
       umgeben von fluiden menschlichen Wesen, die wie Fischschwärme um einen
       herumschwirren. Mit zwei Controllern bewaffnet, kann man diese Wesen
       zusammendrängen, beschleunigen oder, wenn man sie an zwei Enden zu fassen
       bekommt, wie Kaugummi in Länge oder Breite dehnen.
       
       Wer so etwas mag, empfindet dieses Agieren sicher als spielerisch und
       unterhaltsam. Wer sich die nötige Distanz bewahrt hat, registriert
       hingegen, welch strukturelle Perversion die virtuellen Realitäten
       durchzieht – und ist dann eher schockiert denn amüsiert. Menegon arbeitet
       aber durchaus auch in reflexiver, analog-digitaler Kombinatorik. Fast wie
       Slapstick wirken ihre Versuche, einen auf transparenten Stoff gedruckten
       originalgroßen Scan ihres Körpers mit demselben zur Deckung zu bringen.
       Hier kollidieren zwei- und dreidimensionale Systeme oder Statisches mit
       Dynamischem.
       
       Ironische Beiträge zum Thema liefert Sven-Julien Kanclerski. Ähnlich wie
       Manja Ebert ist er Meisterschüler an der Hochschule für Bildende Künste
       Braunschweig, die technologisch offensichtlich gewaltig hinter ihrem Wiener
       Pendant her hinkt. Kanclerski hat einfach einen überdimensionalen Smiley,
       eine pneumatische Skulptur aus Plastikfolie, im Raum platziert. Auch hier
       stellt sich die Frage, wieso wir menschliche Züge und Emotionen selbst in
       dieser Abstraktion und Dimensionsüberschreitung noch erkennen wollen und
       unsere Nachrichten mit solchen Symbolen kommentieren. Eine zweite Arbeit
       liegt auf dem Boden: weiße keramische Elemente wie ein traditioneller
       Fußbodenbelag, der sich zu Wolkenumrissen zusammensetzen lässt. Die
       leistungsfähige „Cloud“ erhält also mal eine ganz elementare Funktion
       zugewiesen.
       
       Auch im kleinen Raum für Freunde geht es digital zu. In einer
       miniaturisierten Land Art-Installation aus Sand und Spiegeln lässt Julia
       Gebauer via Google Earth fragmentierte Reiseerzählungen aus so exotischen
       Orten wie Wolfsburg, dem südaustralischen Oodnadatta und dem kanadischen
       Sundance aufblitzen: Insgesamt ein Parcours, der interaktiv viele Aspekte
       aktueller Bildpraktiken etwa der sozialen Medien anreißt, ohne den Status
       quo bejubeln zu wollen.
       
       5 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Brosowsky
       
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