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       # taz.de -- Initiative vor der Landtagswahl: Real Talk in Brandenburg
       
       > Aktivist*innen der Initiative „Brandenburg, wir möchten reden!“ fahren
       > zwei Wochen lang durch verschiedene Städte und tun genau das: reden.
       
   IMG Bild: Torsten Kitze (links) am Kaffeetisch der Initiative „Brandenburg, wir möchten reden“
       
       Es ist Sonntag und die Mittagssonne knallt auf den Bahnhofsvorplatz von
       Angermünde. Bei Hasans Imbiss sitzen ein paar Männer mit ihrem
       Frühschoppen-Bier. Auf dem pittoresken Marktplatz wenige Straßen weiter
       plätschert ein Springbrunnen vor sich hin. Unter den Sonnenschirmen des
       indischen Restaurants an der Ecke halten einige die Hitze gerade noch aus.
       Ansonsten sind die Straßen ziemlich leer.
       
       Wenn man nicht am See ist, ist der „Place to be“ an diesem Tag definitiv
       der Softeis-Laden in der Rosenstraße, die zum Marktplatz führt. Hier hat
       die Initiative: „Brandenburg, wir möchten reden!“ im Schatten auf dem
       Gehweg ihren Tisch aufgebaut: Auf einer rot-weiß karierten Tischdecke
       stehen eine Thermoskanne voll Kaffee, ein Haufen bunter Plastikbecher und
       zwei Teller mit Kuchenstücken.
       
       Seit einer Woche ist die Gruppe mit ihrem vollgepackten VW-Bus unterwegs.
       Über Forst, Cottbus, Spremberg, Eisenhüttenstadt, Guben und Frankfurt
       (Oder) kamen sie nach Angermünde in die Uckermark. Jeden Tag ein anderer
       Ort, jeden Tag das gleiche Konzept: Kaffee, Kuchen und mit
       Brandenburger*innen ins Gespräch über die aktuelle politische Lage in der
       Region kommen.
       
       „Anstoß für die Tour sind die kommenden [1][Landtagswahlen in Brandenburg]
       und unsere Sorge über [2][das Erstarken der AfD]“, erzählt Joel Wardenga.
       Der 28-Jährige ist im Speckgürtel des Rhein-Main-Gebiets aufgewachsen, vor
       zehn Jahren kam er nach Berlin. Beruflich ist er als Teamer für politische
       Bildungsarbeit viel an Brandenburger Schulen tätig. „Mir persönlich geht es
       auch darum, Brandenburg besser kennenzulernen.“
       
       ## Raus aus der Berliner Bubble
       
       Wardenga trägt sein schulterlanges Haar zu einem Dutt gebunden, schwarze
       Birkenstocks und trotz der Hitze eine dunkle Jeansjacke. „Ich hatte wenig
       Bock, irgendwo hinzufahren und Leute zu überzeugen. Das hat für mich so
       eine komische missionarische Tradition. Bei rechten Sprüchen widerspreche
       ich aber.“
       
       „Aus der Berliner Bubble rauskommen“, war für Marlene Steinmaßl der
       Antrieb, die Tour seit März mitzuorganisieren. Steinmaßl ist 24 Jahre alt,
       vor fünf Jahren zog sie fürs Politikstudium aus Bayern nach Berlin. Wie der
       Großteil der Gruppe macht auch sie politische Bildungsarbeit.
       
       Insgesamt sind sie zu zehnt, aber nicht alle sind die gesamten zwei Wochen
       vor der Wahl dabei. Bei den Vorbereitungen hat sich die Gruppe überlegt,
       was sie in Bezug auf die Landtagswahl tatsächlich bewegen können. „Wir
       informieren über die konkreten Inhalte der Wahlprogramme aller Parteien.
       Viele Menschen wissen gar nicht, welche Konsequenzen die Politik der AfD
       für sie hätte“, erzählt Steinmaßl. Damit wollen sie erreichen, dass
       Menschen noch mal darüber nachdenken, ob sie der AfD wirklich ihre Stimme
       geben möchten.
       
       Es dauert nicht mal eine Viertelstunde, bis ein Anwohner aus einer Haustür
       tritt und direkt vor dem gedeckten Kaffeetisch steht. „Kostenloser Kaffee
       und Kuchen zieht immer“, sagt Wardenga. „Und wer seid ihr? Von welcher
       Partei?“ – „Von keiner, wir wollen einfach reden“, antwortet Wardenga. So
       beginnen die meisten seiner Gespräche.
       
       Nach der Wende ging es erstmal bergauf 
       
       Marie Bröckling, ebenfalls für „Brandenburg, wir möchten reden!“ vor Ort,
       trifft Torsten Kitze vor dem Softeis-Laden. Zunächst meint er, er habe
       keine Zeit. Letztlich unterhält er sich anderthalb Stunden mit Bröckling,
       setzt sich an den Tisch und teilt Erlebnisse aus seiner Vergangenheit,
       zeigt Fotos auf seinem Handy. „Zu DDR-Zeiten war es nicht so schön hier,
       war ja kein Geld da. In den 90ern wurden dann alle Straßen neu gemacht. Ich
       habe selbst im Straßenbau gearbeitet und das Kopfsteinpflaster gelegt.“ Er
       zeigt die Straße runter: Hübsche Fachwerkhäuser mit roten Geranien in den
       Blumenkübeln bis zum Straßenende, wo der Marktplatz beginnt.
       
       Der 54-Jährige hat sein ganzes Leben in dem 14.000 Einwohner*innen-Ort
       verbracht. Die anstehenden Wahlen sind für Kitze kaum Thema. „Da macht
       jeder sein Ding, jeder hat ja seine Einstellung.“ Dennoch ist er enttäuscht
       von der Politik. „Nach den 90ern ist das wieder eingeschlafen mit den
       Anstrengungen für den Osten. Für Angermünde wäre zum Beispiel wichtig, dass
       der Tourismus angekurbelt wird.“
       
       2016 hat Kitze wie 95,3 Prozent der Angermünder*innen den parteilosen
       Frederik Bewer zum Bürgermeister gewählt. „Ich finde cool, dass das mal ein
       Junger ist. Der hat wenigstens noch Energie. Ich hoffe, dass er die gut
       einsetzt.“ Bewer ist ein Newcomer in der Kommunalpolitik, 40 Jahre alt und
       gelernter Jurist. Er gilt als engagiert, bürger*innennah und auch als
       „einfach mal was anderes“ nach 18 Jahren SPD in der Stadtpolitik.
       
       ## Vor allem Rentner*innen suchen das Gespräch
       
       15 kürzere und längere Gespräche finden an diesem Sonntag im Rahmen von
       „Brandenburg, wir möchten reden“ statt. „Ich habe mit viel mehr Kritik
       daran gerechnet, dass wir eine Gruppe junger Studierender aus Berlin sind.
       Ich dachte, man würde uns vorwerfen, dass wir keine Ahnung vom Leben auf
       dem Land haben. Aber bis jetzt wurden wir immer ziemlich positiv
       aufgenommen“, beschreibt Wardenga. „Vor allem Rentner*innen suchen das
       Gespräch. Ich habe das Gefühl, wir könnten jeden Tag auf den Plätzen
       stehen, die wären am Start“, lacht er.
       
       Für Steinmaßl und Wardenga machen die Begegnungen deutlich, dass es nicht
       „die eine Ost- oder Wendegeschichte“ gibt. Bestimme Themen kämen jedoch
       immer wieder auf: Dass die Medien schreiben, was sie wollen, dass es eine
       bessere Verkehrsanbindung zwischen Stadt und Land bräuchte und dass der
       Einzelhandel in den Innenstädten zurückgehe.
       
       „Ich kenne gar keinen Rechten, du?“, fragt eine 63-jährige Erzieherin aus
       Prenzlau ihren Mann. Der schüttelt den Kopf. Nee, er kennt auch keinen. Er
       rutscht auf seinem Stuhl herum, eigentlich machen sie gerade einen
       Nachmittagsspaziergang und wollten zum Eisladen. Er geht schon mal vor. Die
       Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, packt derweil aus: „Also gegen
       Frauen und Kinder hab ich nichts. Aber es können ja nicht alle
       hierherkommen.“
       
       Genau dieser Satz fällt öfter an diesem Tag. Auch das Bild „Und dann haben
       die die neusten Smartphones, die kriegen einfach alles“, wird immer wieder
       bedient. Die Prenzlauerin hat aber auch neue Geschichten aus der
       Stigmatisierungskiste auf Lager: „Neulich habe ich von einer Freundin
       gehört, dass einer im Supermarkt mit Karte bezahlt hat. Und dann sagte sie
       zu mir: ‚Na siehste, sogar eine Kreditkarte haben die schon.‘“
       
       ## „Ökologisch und links“, aber trotzdem rassistisch
       
       Tatsächlich ist Angermünde eine der wenigen Städte in der Uckermark ohne
       AfD in der Stadtverordnetenversammlung. Nachdem es 2015 und 2016 rechte
       Proteste vor den Geflüchteten-Unterkünften gegeben hat, entstand das
       „Bürgerbündnis für eine gewaltfreie, tolerante und weltoffene Stadt
       Angermünde“. Aktuell gibt es einen neuen Grund zur Sorge: Die
       [3][Neonazi-Partei III. Weg] hat auch in Angermünde Anhänger*innen.
       
       Eine weitere Frau, die ebenfalls nicht mit ihrem Namen in der Zeitung
       stehen will, stellt sich vor mit: „Ich war schon immer ökologisch und
       links.“ Sie kommt gerade mit ihrer erwachsenen Tochter vom Badesee. „Ich
       kaufe nur regional ein und setze mich für den Erhalt alter
       brandenburgischer Nutzpflanzen ein“, erzählt sie. Dass Menschen so wenig
       Rente bekommen, findet sie schlimm. Und auch der Mindestlohn sei viel zu
       gering. Alle am Tisch nicken.
       
       Nach kurzer Zeit nimmt das Gespräch eine Wendung. Es wird deutlich: Mit
       Menschen meint sie in erster Linie deutsche Menschen. Auch sie regt sich
       über die angebliche Bevorzugung von Geflüchteten auf, dabei gibt sie zu,
       gar keine Geflüchteten zu kennen. Auch fürchtet sie, dass durch die
       Anwesenheit von Frauen mit Hidschab die Rechte deutscher weißer Frauen ins
       Wanken gebracht würden. Und sowieso könne man als Frau neuerdings ja nicht
       mehr ohne Angst rausgehen.
       
       Steinmaßl grätscht immer wieder rein: „Ich verstehe nicht, was die
       Altersarmut von Menschen hier in Brandenburg mit Geflüchteten zu tun haben
       soll. Und wenn Sie Angst haben rauszugehen, dann haben Sie vielleicht Angst
       vor sexualisierter Gewalt, die von Männern ausgeht. Aber das hat doch
       nichts mit deren Nationalität zu tun.“ Steinmaßl verweist auf Strukturen
       und benennt Rassismus, während ihre Gesprächspartnerin weiter an einer
       nicht erklärbaren persönlichen Angst-Geschichte festhält.
       
       ## Die Frage nach der Wirkung bleibt offen
       
       „Letztlich kann ich nicht wissen, welchen Effekt wir haben. Es passiert
       selten, dass die Leute uns nach den Gesprächen kommunizieren, dass sie noch
       mal drüber nachdenken. Manchmal passiert es aber schon“, berichtet
       Steinmaßl aus ihrer bisherigen Erfahrung. Jeden Tag aufs Neue stelle sich
       die Frage, ob sie sich nur gegen die AfD aussprechen und beispielsweise
       CDU-Positionen stehenlassen. „Es ist ja keine Neuigkeit, dass auch andere
       Parteien Rassismus reproduzieren“, sagt Steinmaßl.
       
       Nachdem der Tapeziertisch zusammengeklappt und in den Bus geräumt ist,
       macht die Gruppe noch einen Stopp am Mündesee, nur zehn Minuten Fußweg vom
       Marktplatz entfernt. Hier sitzt Habib Asrak Gimez allein auf einer Bank und
       schaut aufs Wasser. Zum Kaffee in der Rosenstraße waren nur weiße Menschen
       gekommen. Gimez ist seit zwei Jahren in Deutschland, seit fünf Monaten
       wohnt er in einem Hotel direkt am Bahnhof von Angermünde. Sein
       Aufenthaltsstatus: Duldung. Irgendwann soll er wieder gehen. „Deutschland –
       nicht gut“, ist das Erste, was er sagt. „Kein Geld, keine Arbeit, viel
       Rassismus.“ Niemand spreche mit ihm.
       
       Die Gruppe muss weiter. Die nächsten Tage werden sie in Bad Freienwalde,
       Eberswalde, Zehdenick, Templin und Kyritz Kaffeetrinken und reden, bis dann
       am Sonntag gewählt wird.
       
       30 Aug 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Wasenmüller
       
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