URI: 
       # taz.de -- Kurzfilm „Der Prozess“: Unterm Deckmantel der Zivilcourage
       
       > Jan Wildes Kurzfilm basiert auf einem Vorfall im sächsischen Arnsdorf,
       > der 2016 Aufsehen erregte. Es geht um Gewalt aus der bürgerlichen Mitte.
       
   IMG Bild: Originalschausplatz: An diesen Baum soll der 21-Jährige festgebunden worden sein
       
       Dresden taz | Am 21. Mai 2016 sollen vier Männer zwischen 29 und 56 Jahren
       einen psychisch kranken Geflüchteten in Arnsdorf bei Dresden mit
       Kabelbindern an einen Baum fixiert haben. Der 21 Jahre alte Iraker hatte in
       einem Netto-Supermarkt eine Telefonkarte gekauft und war wegen Problemen
       damit mehrfach am selben Tag wieder dort aufgetaucht.
       
       Nach einer Auseinandersetzung sollen die vier Männer ihn gewaltsam aus dem
       Discounter gezerrt und festgebunden haben. Ein Prozess gegen die
       mutmaßlichen Täter wegen Freiheitsberaubung wurde kurz nach Beginn
       eingestellt. Der Grund: [1][Die Strafen im Falle eines Urteils würden zu
       geringfügig ausfallen]. Die Männer hatten ihr Handeln als Notwehr
       dargestellt.
       
       Trotzdem hat der Regisseur Jan Wilde, 36, sein Kurzfilmprojekt, das von den
       Arnsdorfer Geschehnissen inspiriert ist, „Der Prozess“ genannt. Denn in
       seiner Inszenierung findet die Feststellung der Schuld nicht in einem
       Gerichtssaal, sondern auf dem Netto-Parkplatz statt. Anders als in der
       Realität, hat der auf dem Parkplatz festgehaltene Mann auch einen
       Verteidiger, der seine Sprache spricht und mit den Anklägern, also
       denjenigen, die ihn an dem Baum fixierten, „in eine Prozesssituation
       eintritt“, sagt Wilde.
       
       Entstanden ist der Kurzfilm in einem Berliner Theatersaal in Zusammenarbeit
       mit den SchauspielerInnen. Das Projekt ist ein Hybrid aus Spielfilm,
       dokumentarischen und performativen Elementen – alle Charaktere erzählen in
       Rückblenden von ihrer Motivation und Rolle in der „Verhandlung“. Fertig
       werden soll „Der Prozess“ im Frühjahr, aktuell arbeitet Wilde an der
       Postproduktion.
       
       „Der Prozess“ ist nicht der erste Film, der sich dem Vorfall widmet. Mario
       Pfeifer, Künstler aus Dresden, stellte im vergangenen Jahr auf der 10.
       Berlin Biennale „[2][Again/Noch einmal“] vor. Die Produktion setzt sich mit
       ganz ähnlichen Fragen auseinander, legt dabei aber einen besonderen Fokus
       auf die mediale Berichterstattung.
       
       Jan Wilde geht es bei seiner Inszenierung um „diese Grenze zwischen
       Selbstjustiz und Zivilcourage“, sagt er. Und um Gewalt, die nicht von
       Menschen mit klassisch rechtsextremer Vita ausgeht, sondern von der
       bürgerlichen Mitte. In seinem Film gelten die an dem Vorfall Beteiligten
       nicht als besonders politisch, geschweige denn radikal. „Und trotzdem haben
       sie Denk- und Handlungsmuster des Rechtsextremismus übernommen, ob bewusst
       oder unbewusst, die sich im Zuge dieses Vorfalls dann Bahn brechen.“
       
       Wilde beobachtet, dass sich Menschen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte
       den vergangenen Jahren immer wieder ermutigt gefühlt hätten, Grenzen zu
       überschreiten. „Und da muss man mit Argusaugen draufgucken. Denn wenn sowas
       wie in Arnsdorf unter dem Deckmäntelchen der Zivilcourage mehrheitsfähig
       wird, finde ich das wahnsinnig gefährlich.“ Auf einem Videomitschnitt des
       realen Vorfalls hört man eine Verkäuferin sagen: „Schon schade, dass man
       eine Bürgerwehr braucht.“ Dass die Gewalt gar als gesellschaftliches
       Engagement, als bürgerliche Pflicht bezeichnet werde, sei für Wilde Grund
       gewesen, diesen Film zu machen.
       
       ## Erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne
       
       Wilde hat „Der Prozess“ ganz bewusst von Arnsdorf in einen neutralen
       Theatersaal mit computeranimiertem Bühnenbild verlegt, die Verortung völlig
       aufgelöst. „Man erkennt allein, dass es sich um eine beliebige Vorstadt
       handelt.“ Das könne irgendwo in Ostdeutschland sein, klar, aber genauso gut
       auch in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, sagt Wilde. „Ich will nicht,
       dass Leute durch den Film in ihrer Auffassung gestärkt werden, dass das
       ausschließlich ein ostdeutsches Problem ist.“ Rechte Gewalt gebe es im
       Westen genauso, man denke an Lübcke, man denke an Dorstfeld.
       
       Für die Finanzierung des Projekts startete Wilde im März mit seiner
       Produktionsfirma „zeitgebilde“ eine [3][Crowdfunding-Kampagne], die
       vorgesehenen 3.000 Euro waren schnell erreicht. Gefördert wird „Der
       Prozess“ auch durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, die
       Sächsische Landesanstalt für neue Medien und das Kulturamt Dresden. Im
       Frühjahr will Wilde den fertigen Film auf Festivals einreichen und ihn
       Institutionen für politische Bildung zugänglich machen.
       
       7 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Prozess-nach-Uebergriff-auf-Fluechtling/!5404144
   DIR [2] /Fall-Schabas-Al-Aziz-auf-Berlin-Biennale/!5509385
   DIR [3] https://www.startnext.com/der-prozess-the-trial-kurzfilm
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leonie Gubela
       
       ## TAGS
       
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Rechte Gewalt
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Videokunst
   DIR AfD Sachsen
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Flucht
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Videokunst über Tod in Polizeigewahrsam: Ein Mensch brennt
       
       Im Oldenburger Edith-Russ-Haus untersucht der Videokünstler Mario Pfeifer
       grauenhafte Todesfälle. Vom Einzelfall kommt er subtil auf die
       Gesellschaft.
       
   DIR Bürgermeisterin über rechtes Mobbing: „Jetzt stehst du ganz alleine da“
       
       Martina Angermann (SPD) wurde von Rechten gemobbt, bis sie krank wurde.
       Wenn sie aufgibt, könnte die AfD im sächsischen Arnsdorf zum Zug kommen.
       
   DIR Flüchtlinge in Sachsen: Das Rätsel um Schabas Al-Aziz' Tod
       
       Vier Männer fesseln in Sachsen einen Flüchtling an einen Baum. Kurz vor
       ihrem Prozess wird der Iraker tot im Wald gefunden. Zufall?
       
   DIR Prozess nach Übergriff auf Flüchtling: Wegen „geringer Schuld“ eingestellt
       
       Vier Männer hatten in Sachsen in einem Supermarkt einen irakischen
       Asylbewerber gefesselt. Der Prozess gegen sie ist nun wegen Geringfügigkeit
       eingestellt worden.
       
   DIR Iraker aus Sachsen: Flüchtling tot im Wald gefunden
       
       Ein Iraker wurde im Mai 2016 in einem Supermarkt in Arnsdorf von einer
       Bürgerwehr schikaniert. Nun wurde seine Leiche entdeckt.