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       # taz.de -- Muslimische Seelsorgerin über ihr Wirken: „Wir machen nicht viel anders“
       
       > Mona Al-Masri spricht mit Muslimen in seelischen Ausnahmezuständen. Es
       > ist eines von insgesamt acht Ehrenämtern, die sie übernommen hat.
       
   IMG Bild: Bekommt nach wie vor vermittelt, eine Fremde zu sein: Mona Al-Masri
       
       taz: Frau Al-Masri, haben Sie selbst jemals einen Seelsorger gebraucht? 
       
       Mona Al-Masri: Nein, wenn ich trauere, möchte ich allein sein. Nach dem
       frühen Tod meiner Mutter gab es Zeiten, wo ich unglaubliche Sehnsucht nach
       ihr hatte. Dann habe ich die Briefe und Bilder rausgeholt, geweint und mit
       ihr gesprochen. Das hat mir gut getan. Bisher hat mir dabei ein Seelsorger
       nie gefehlt. Vielleicht merke ich aber irgendwann, dass ich jemanden
       brauche.
       
       Würden Sie dann mit einem Muslim sprechen wollen? 
       
       Ich glaube, ich bin da sehr offen. Es gibt sicherlich Situationen, in denen
       mich ein muslimischer Seelsorger besser verstehen könnte. Aber in erster
       Linie ist ein Seelsorger ein Mensch, und es geht darum, mit einem Menschen
       zu sprechen.
       
       Warum haben Sie selbst eine Ausbildung zur muslimischen Seelsorgerin
       gemacht? 
       
       Ich lebe seit 37 Jahren hier in Braunschweig und bemühe mich, mich in die
       Gesellschaft einzubringen. Ich bin politisch, sozial und interreligiös in
       acht ehrenamtlichen Posten aktiv – und schon lange in der muslimischen
       Gemeinde. Als das Konzept der muslimischen Seelsorge von Hannover nach
       Braunschweig kam, konnte ich nicht Nein sagen, obwohl es eigentlich ein
       ungünstiger Zeitpunkt für mich war.
       
       Warum? 
       
       Ich hatte gerade acht Mitglieder meiner Familie, die aus Syrien geflüchtet
       waren, bei mir zu Hause aufgenommen. Aber ich war neugierig und wollte
       gerne helfen.
       
       Nun arbeiten Sie als Seelsorgerin in einem Krankenhaus. Wie sieht ihre
       Arbeit dort aus? 
       
       Das ist unterschiedlich, je nachdem, ob ich zu regelmäßigen Besuchen da
       bin, oder für einen Notfall angerufen werde. Die sind am härtesten und mit
       viel Leid und oft mit dem Tod verbunden. Ein Fall, der mir unter die Haut
       gegangen ist: Ein Familienvater war verstorben und seine ganze Familie war
       da. In der Nacht waren es die Enkelkinder, die am meisten geweint und
       geschrien haben, die Nervenzusammenbrüche hatten.
       
       Wo fangen Sie dann an? 
       
       Ich frage, wer die engsten Familienmitglieder sind und wer dem Patienten am
       nächsten stand. Wenn ein Mann gestorben ist und seine Frau dabei ist, dann
       spreche ich meistens zuerst mit ihr. Häufig verliert der eine oder andere
       auch die Kontrolle über sich und fällt mehr in die Trauer hinein – auch
       diese Menschen versuche ich zu betreuen.
       
       Und wie erfahren Sie, ob überhaupt jemand mit Ihnen sprechen möchte? 
       
       Zweimal monatlich gehe ich ins Krankenhaus und bekomme eine Liste der
       Patienten, die bei der Aufnahme angegeben haben, dass sie Muslime sind und
       vielleicht mit einem Seelsorger sprechen möchten. Wenn ich auf die Zimmer
       gehe, wollen manche gerne mit mir sprechen, andere sagen, sie hätten keinen
       Bedarf. Diese Art der Seelsorge ist in der islamischen Kultur noch nicht
       groß verbreitet: Eigentlich ist die Familie für die Kranken verantwortlich.
       In meiner Heimat Syrien ist Tag und Nacht ein Familienmitglied dabei, wenn
       jemand im Krankenhaus liegt.
       
       Belasten Sie die Gespräche? 
       
       Ich tue mich mit dem Tod schwer, seitdem ich meine Mutter verloren habe.
       Sie war jung, ich war selber jung. Als ich begonnen habe, als Seelsorgerin
       zu arbeiten, wurde ich immer wieder daran erinnert. Es hat mich Überwindung
       gekostet, Zimmer zu betreten, in denen tote Menschen lagen. Aber irgendwann
       musste ich damit leben. Über solche Erlebnisse aus unseren eigenen
       Biografien haben wir auch in der Ausbildung gesprochen.
       
       Wie wurden Sie ausgebildet? 
       
       Zunächst wurden wir von einer evangelischen Pfarrerin und einem Pfarrer
       ausgebildet. Für den islamischen Teil war die Schura Niedersachsen …
       
       … der Landesverband der Muslime … 
       
       … zuständig. In der Gruppe haben wir uns viel ausgetauscht, etwa darüber,
       wie wir verschiedene Bilder oder Gegenstände interpretieren: Eine Kerze
       bedeutet für manche Licht und Erleuchtung, für andere die Hölle. Und
       natürlich haben wir auch über Seelsorge-Techniken und Kommunikationsarten
       gesprochen.
       
       Was machen Sie anders als christliche Seelsorger? 
       
       So viel machen wir glaube ich nicht anders. Natürlich versuche ich den
       Patienten zu stärken und in die Grundlagen des Islam zu gehen – aber der
       Islam ist facettenreich, so wie das Christen- oder Judentum auch. Einmal
       hat mich eine Frau gebeten, Bittgebete und Koranverse zu lesen, nachdem ihr
       Mann einen Schlaganfall hatte. Das habe ich dann sechs Stunden lang
       gemacht. Aber viele Patienten wollen auch einfach darüber sprechen, wie es
       ihnen geht. Wie religiös jemand ist, kann ich ja nicht sehen. Also muss ich
       mich langsam herantasten und nach dem Patienten richten.
       
       Betreuen Sie nur Muslime? 
       
       Theoretisch schon. Während der Ausbildung hatten mich die Schwestern auf
       einer Station gebeten, mit einem Patienten zu sprechen – sie waren sich
       nicht sicher, ob er Muslim ist. Als ich mich auf Arabisch vorgestellt habe,
       sagte er, er sei Jeside, nicht Muslim. Die Seelsorge hat er abgelehnt, mich
       aber gebeten, für ihn zu übersetzen. In dem Moment bin ich eigentlich nicht
       Dolmetscherin, aber ich habe dann geholfen, soweit ich kann.
       
       Betreuen Sie gleichermaßen Männer und Frauen? 
       
       Eigentlich ja, wobei das am Ende die Patienten entscheiden müssen. Dass ein
       Mann nicht mit mir sprechen wollte, weil ich eine Frau bin, ist noch nie
       passiert. Allerdings musste ich mal für einen Kollegen einspringen: Eine
       Patientin wollte über bestimmte Themen lieber mit einer Frau sprechen.
       
       Sind Sie gläubig? 
       
       Natürlich, das sieht man auch an meinem Erscheinungsbild. Ich bete
       regelmäßig und versuche meinen Glauben jeden Tag zu leben. Aber bei der
       Seelsorge lasse ich mich auf die Patienten ein. Das ist auch ein Grundsatz
       im Islam: Kein Zwang im Glaube. Ich versuche bei der Betreuung, erst einmal
       die Seele sprechen zu lassen.
       
       Sie haben auch Kinderbücher geschrieben. Geht es dabei um den Islam? 
       
       Darin möchte ich die Interreligiösität in der Gesellschaft darstellen. Ich
       weiß von meinen eigenen Kindern, wie es ist, wenn die Festtage kommen und
       die Schulkameraden nichts darüber wissen und nicht verstehen, wieso die
       muslimischen Kinder fehlen. Das Buch „Festkekse“ ist ein Buch über den
       Ramadan. Ich erkläre darin das Fasten im Islam und im Christentum und
       versuche, eher auf die Gemeinsamkeiten als auf die Unterschiede einzugehen.
       Die Kinder sollen wissen, dass uns mehr verbindet, als uns trennt.
       
       Sie machen das alles nebenbei, sind aber von Beruf aus
       Sozialwissenschaftlerin. 
       
       Momentan arbeite ich aber nicht in diesem Bereich – unter anderem auch,
       weil es durch mein Kopftuch sehr schwierig ist, eine Stelle zu bekommen.
       Als Kind wollte ich immer Rechtsanwältin werden und für Frauenrechte
       kämpfen.
       
       Warum kam es anders? 
       
       Mit 17 bin ich nach Braunschweig gekommen. Eigentlich wollten mein Mann und
       ich nur zwei Jahre bleiben – und ich danach die Schule beenden und
       studieren. Als 1982 die Unruhen in Syrien anfingen, hat sich die Rückkehr
       in unsere Heimatstadt Hama aber verschoben. Ich habe hier zwei Kinder
       bekommen und mich dann entschieden, hier die Schule abzuschließen. Danach
       fing ich an, weil es in Braunschweig kein Jura gab, Sozialwissenschaften zu
       studieren. Seit Anfang dieses Jahres bin ich Hauptschöffin am Amtsgericht –
       ein bisschen Jura also doch.
       
       Also haben nicht all Ihre Ehrenämter mit Ihrer syrischen Herkunft zu tun? 
       
       Nicht unbedingt, wobei ich durch das Kopftuch trotzdem immer in Verbindung
       damit gebracht werde. Und wenn ich mich mit Kulturen beschäftige – durch
       meine Tätigkeit im Vorstand im Haus der Kulturen – geht es auch um meine
       eigene Identität. Auch um die deutsche, mit der ich mich mittlerweile
       identifiziere. Und Interreligiösität war auch in Syrien schon ein Thema.
       
       Inwiefern? 
       
       Ich bin in einer christlichen Gegend groß geworden, wir haben mit unseren
       christlichen Nachbarn deren Feste gefeiert, und sie mit uns unsere. Die
       religiösen Unterschiede haben wir nicht gelebt. In der Schule waren wir zur
       Hälfte Muslima und zur Hälfte Christinnen und alle ein Herz und eine Seele.
       
       Was motiviert Sie, weiterzumachen? 
       
       Ich bin keine Person, die einen geraden Weg geht. Ich habe gemerkt, dass
       ich immer gerne unter Menschen bin – ob als Dolmetscherin, Seelsorgerin
       oder Flüchtlingsbegleiterin. Das erfüllt mich. Wenn ich sehe, dass jemand
       Hilfe braucht, ist es mir wichtig, nicht Nein zu sagen. Inzwischen könnte
       ich nicht mehr damit aufhören, ich werde das bis an mein Lebensende machen.
       
       Hat das mit Ihrem Glauben zu tun? 
       
       Der Glaube fordert von uns, dass wir Menschen helfen. Aber ich denke, das
       ist auch meine natürliche Neigung. Wieso sollte ich nicht von mir aus
       helfen, wenn ich es kann?
       
       Werden Ihnen die Ehrenämter und die Probleme anderer manchmal zu viel? 
       
       Wenn ich Enttäuschungen erlebe, ja. Ich kämpfe den ganzen Tag und setze
       mich für Menschen ein. Ich will nichts Materielles dafür, nicht einmal
       große Anerkennung. Aber ich möchte schon das Gefühl haben, Teil dieser
       Gesellschaft zu sein. Stattdessen bekomme ich immer noch das Gefühl, dass
       ich eine Fremde bleiben soll. Dann denke ich manchmal, dass ich das nicht
       mehr möchte. Ich engagiere mich, auch weil ich mich als Teil dieser
       Gesellschaft betrachte. Ich helfe ja nicht nur Menschen aus meinem eigenen
       Kulturkreis, und trotzdem gehöre ich manchmal nicht dazu. Aber was will man
       machen: Die Freude am Helfen überwiegt, und auch die vielen guten Menschen,
       denen man begegnet.
       
       16 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carlotta Hartmann
       
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