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       # taz.de -- Pioniere der digitalen Resozialisierung: Von Haft-Blogs und Knast-Leaks
       
       > Nie zuvor drangen so viele Informationen aus Gefängnissen nach draußen –
       > via Internet und Handy. Doch deren Nutzung ist im Knast stark
       > eingeschränkt.
       
   IMG Bild: Guten Appetit
       
       In der Anstalt weiß man genau, welche Beamten es sind, die Handys für
       Gefangene reinschmuggeln. Auch die Preise sind bekannt“, sagt Helmut S.,
       der in Wirklichkeit anders heißt, der taz. Und er muss es wissen: Fast
       sieben Jahre verbrachte der Berliner im Gefängnis. Dort gründete er mit
       einem Kollegen den Twitterkanal „[1][jvaberlintegelleaks]“. Bis heute
       werden darüber Interna aus dem Gefängnisalltag öffentlich ausgeplaudert.
       
       Nicht anders bei „Gefängniscuisine“. Seit einigen Wochen posten die
       Inhaftierten der JVA Heidering – einer in Brandenburg gelegenen
       Justizvollzugsanstalt des Landes Berlin – unter diesem Titel Bilder ihrer
       Mahlzeiten in der Haft auf Twitter. Ein Tweet zeigt kunstvoll auf blauem
       Untergrund drapiert zwei Eier, ein Brötchen und eine Ecke Brie, das Essen
       vom 22. August 2019. Provokant kommentieren die Insassen: „Die heutige
       Abendmahlzeit widmen wir Justizsenator Dirk Behrendt! Wir haben anscheinend
       die beste Verpflegung.“
       
       Handys und Internet sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Im
       Knast allerdings sind sie verboten und entgegen der Bemühungen der Berliner
       Justizverwaltung manifestiert sich dieser Trend zur mobilen Kommunikation
       auch im deutschen Strafvollzug. [2][KnastVlog], ein YouTube-Kanal eines
       Inhaftierten, [3][GefängnisCuisine], JVABerlinTegelLeaks und weitere
       erfolgreiche Social-Media-Accounts werden aus dem Knast gefüttert. Sind die
       Betreiber der Gefangenen-Blogs also Pioniere der Digitalisierung hinter
       Gittern?
       
       Dem würde Johannes Feest zustimmen. Er ist Kriminalsoziologe und Kritiker
       des Strafvollzugs. Dem Strafvollzugsgesetz zufolge muss „das Leben im
       Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich angeglichen
       werden“. Davon sei man heute aber weit entfernt, sagt Feest. Der
       Strafvollzug hinke immer schon den gesellschaftlichen Entwicklungen
       außerhalb der Strafanstalten hinterher. Der Zugang zum Web sei ein
       offensichtliches Beispiel dafür. „Dabei kann das Internet sehr zur
       Resozialisierung beitragen“, ist sich der Wissenschaftler sicher.
       
       ## Telefonieren aus Freundlichkeit
       
       Mit dem Gefängnistelefon verhielt es sich einst ähnlich. „Früher mussten
       Gefangene noch zum Pfarrer oder Sozialarbeiter gehen, um telefonieren zu
       dürfen“, erinnert sich Feest. „Quasi illegal, aus Freundlichkeit.“ Heute
       sind Telefonapparate für Wertkarten im Strafvollzug Standard.
       
       Nur nicht in Bayern. Im Freistaat dürfen Gefangene nach wie vor nur in
       Notfällen telefonieren. Timo Schrott, Sprecher der bayrischen Justiz sagt,
       dass es „insbesondere bei Telefongesprächen für Gefangene leichter möglich
       ist, Gespräche zu unerlaubten Geschäften, zur Vorbereitung des
       Einschmuggelns von Drogen oder der Organisation von Fluchthilfe zu
       missbrauchen“. Vor diesem Hintergrund könne eine unkontrollierte
       Kommunikation mit Außenstehenden nicht zugelassen werden. Dass bayrische
       Gefängnisse deswegen nun drogenfrei wären, darf bezweifelt werden; und erst
       im August sind zwei Inhaftierte aus der JVA Memmingen in Bayern
       ausgebrochen.
       
       Außerhalb Bayerns ist die Diskussion über Kommunikation im Knast aber im
       vollen Gange. Mancherorts wird erbittert gestritten. So etwa in der JVA
       Tegel. Seit gut einem Jahr postet der Inhaftierte Thomas D. unter dem Titel
       KnastVlog Handyvideos aus der Haftanstalt auf YouTube. Darin erzählt er
       Anekdoten aus seinem Alltag und spricht über politische Themen, alles also
       wie üblich im Netz. Ebenso üblich: In einer Roomtour filmt D. seine
       Gefängniszelle und den Ausblick auf den Anstaltshof.
       
       ## Überteuerte Tarife
       
       Genau das sieht Sebastian Brux, Sprecher der Berliner Justizverwaltung, gar
       nicht gerne. „Gefängnisse sind Sicherheitseinrichtungen und da sind
       Fotoaufnahmen ein absolutes No-go, auch wenn sie als Foodblogger oder
       egozentrierte Videoblogger daherkommen.“ Dabei ziehen die illegalen Blogger
       mittlerweile ein kaum zu ignorierendes Maß an Aufmerksamkeit auf sich: Der
       KnastVlog zählt 100.000 Follower; den Foodbloggern von Gefängniscuisine
       folgen auch Tausende User. Dahinter reihen sich im Ranking Twitterkanäle
       Inhaftierter aus den JVAs Moabit und Luckau-Duben; oder eben der Kanal, den
       Helmut S. bis zum Ende seiner Haft fütterte.
       
       Nie zuvor drangen derart viele Informationen aus deutschen Gefängnissen
       nach draußen. Letztes Jahr habe man über 1.000 Handys in Berliner
       Justizvollzugsanstalten konfisziert, sagt die Justizverwaltung auf
       taz-Anfrage. Bei einer Gefängnispopulation von 4.000 Menschen in Berlin
       eine stolze Zahl. Helmut S. sagt, dass die weit verbreitete illegale
       Handynutzung im Gefängnis eine Reaktion auf die überteuerten Tarife der
       offiziellen Telefonangebote sei. „Die wenigsten haben Missbrauch im Kopf.“
       Kontakt nach Hause, insbesondere außerhalb Deutschlands, sei mit den
       derzeitigen Telefontarifen in Haft kaum erschwinglich.
       
       Und tatsächlich: Der Antwort auf eine Anfrage der FDP im Abgeordnetenhaus
       Berlin zufolge klaffen die Telefonkosten in Berliner Gefängnissen stark
       auseinander. Während in der JVA Tegel für Inhaftierte eine Telefonminute
       aufs Festnetz einen Cent kostet, zahlt man in anderen Anstalten sieben
       Cent, auf Mobiltelefone sogar dreiundzwanzig. Kein Wunder, wenn sich
       Inhaftierte für die angenehmere und preiswertere Variante entscheiden, das
       illegale Privathandy. Auch wenn das Monopol der Schmuggler die Handypreise
       in die Höhe treibt. 150 bis 250 Euro seien für ein altes Smartphone üblich,
       sagt der bis 2018 Inhaftierte Helmut S. „Im Knast kann man aus Schrott Gold
       machen.
       
       Die Justiz würde die illegale Handynutzung am liebsten zur Gänze
       unterbinden. Darum plant die Berliner Justizverwaltung, in der
       Untersuchungshaftabteilung der JVA Moabit einen Störsender einzurichten. In
       der Jugendhaftanstalt Plötzensee läuft schon solch ein „Handyblocker“.
       Aufgrund der hohen Kosten klingt selbst der Justizsprecher nur mäßig
       überzeugt. „In jedem Fall nutzt es dem Anbieter, der damit sehr viel Geld
       verdient“, kommentiert Sebastian Brux süffisant die
       2-Millionen-Euro-Investition. Auch Experten sind unschlüssig, ob Kosten und
       Nutzen der Störsender verhältnismäßig sind.
       
       Dass dem Problem mit Repression allein nicht beizukommen ist, das weiß auch
       der grüne Berliner Justizsenator Dirk Behrendt. Das Pilotprojekt
       „Resozialisierung durch Digitalisierung“ ist Ausdruck davon. Seit
       eineinhalb Jahren können 70 Inhaftierte in Berliner Anstalten auf Tablets
       im Internet surfen. Ohne Kamera und Social Media, das Surfen ist auf
       registrierte Websites beschränkt. Doch die Kommunikation nach Draußen per
       Mail sowie die Wohnungs- und Arbeitssuche werden durch den Zugang zum
       Internet für Inhaftierte erheblich erleichtert. Da es im Projekt bisher
       keine negativen Vorfälle gegeben habe, will man das Angebot „in den
       nächsten zwei Jahren auf alle Berliner Justizvollzugsanstalten ausweiten“,
       sagt Justizsprecher Brux.
       
       Der Gründer von jvaberlintegelleaks, Helmut S., würde das begrüßen. Ob
       damit aber der Social-Media-Offensive der Inhaftieren Abbruch getan wird,
       ist zu bezweifeln, gerade wenn man eine ganz aktuelle Nachricht aus der
       alten Medienwelt mit einbezieht: In drei Berliner Haftanstalten (Tegel,
       Moabit, Plötzensee) gucken die Häftlinge demnächst sogar dann in die Röhre,
       wenn sie lediglich gern einen guten alten Fernseher in der Zelle hätten.
       Die Firma, die die Geräte bislang kostenpflichtig auf Dinge wie Waffen,
       verbotene Gegenstände und Drogen kontrolliert und danach versiegelt hatte,
       hat den Vertrag gekündigt. Es sei nicht leicht, für diese Aufgabe einen
       anderen Dienstleister in der Hauptstadt zu finden, [4][sagte] Sebastian
       Brux der B.Z.
       
       21 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/jvaberlintegel?lang=de
   DIR [2] https://www.youtube.com/channel/UCRdvQkt8_Yc4pvoFZGhP6og
   DIR [3] https://twitter.com/gefngniscuisin1
   DIR [4] https://www.bz-berlin.de/berlin/reinickendorf/die-berliner-knackis-gucken-jetzt-in-die-roehre
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christof Mackinger
       
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