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       # taz.de -- Handfehlbildung bei Neugeborenen: Weiter dran bleiben
       
       > Fehlbildungen an den Händen von Kleinkindern beängstigen. Die mutmaßliche
       > Häufung weckt Erinnerungen an den Contergan-Skandal.
       
   IMG Bild: Das Sankt Marien-Hospital in Gelsenkirchen-Buer
       
       Gibt es eine auffällige Häufung von Fehlbildungen bei Kleinkindern? Die
       Meldung einer Hebamme, es sei in einem Gelsenkirchener Krankenhaus bei
       „auffällig vielen“ Neugeborenen zu solchen Fehlbildungen an den [1][Händen]
       gekommen, hat eine bundesweite Debatte ausgelöst. Während Medizin und
       Forschung noch vor einem großen Fragezeichen stehen, drängen Eltern und
       andere Betroffene auf eine lückenlose Aufklärung – und über allem schwebt
       die Erinnerung an Contergan.
       
       Im Sankt Marien-Hospital Buer in Gelsenkirchen sind zwischen Juni und
       September diesen Jahres drei Kinder mit einer einseitigen Handfehlbildung
       zur Welt gekommen. Am normalen Unterarm waren die Handteller und Finger nur
       unvollständig angelegt. Eine Hebamme machte die Fälle öffentlich. Die
       Eltern sollten eine Chance zur Aufklärung bekommen und mögliche Ursachen
       für eine Häufung erforscht werden, begründet sie ihre Entscheidung, an die
       Öffentlichkeit zu gehen, in einem RTL-Interview. Der Bild sagte sie, dass
       sich seitdem 20 Familien gemeldet hätten, die auch betroffen seien.
       
       Der Deutsche Hebammenverband kann das nicht bestätigen. Dort heißt es zur
       taz: „Fehlbildungen an den Händen begegnen Hebammen im Alltag immer wieder
       einmal, kommen aber eher selten vor. Der Deutsche Hebammenverband hat keine
       Zunahme von Anfragen registriert.“ Statistisch gesehen werden jährlich ein
       bis zwei Prozent der Kleinkinder mit Fehlbildungen geboren. Meistens
       entwickeln sie sich während der frühen Schwangerschaft zwischen dem 24. und
       36. Tag nach der Befruchtung und können bereits vor der Geburt bei der
       Ultraschalluntersuchung entdeckt werden.
       
       Die Ursachen können unterschiedlich sein, genetisch, mechanisch, toxisch
       oder durch eine Infektion bedingt. Wie es zu der Fehlbildung bei den
       Neugeborenen des Sankt Marien-Hospitals kommen konnte, ist derzeit unklar.
       Doch die Häufung in diesem kurzen Zeitraum wirft Fragen auf. „Fehlbildungen
       dieser Art haben wir seit vielen Jahren nicht gesehen“, heißt es in einer
       Erklärung des Krankenhauses. Ethnische, kulturelle oder soziale
       Gemeinsamkeiten der betroffenen Familien konnten ausgeschlossen werden.
       Alles also nur ein Zufall?
       
       ## Und in Frankreich?
       
       In [2][Frankreich] sorgten im vergangenen Jahr ähnliche Fehlbildungen bei
       Neugeborenen ebenfalls für Aufsehen und Empörung. In Städten im Osten des
       Landes sowie in der Bretagne waren in den Jahren 2000 bis 2014 mehrere
       Kinder mit Fehlstellungen an Händen und Armen zur Welt gekommen. Damals
       wurde vermutet, dass die Ursachen dafür in der Umwelt oder der
       Ernährungsweise der Mütter liegen könnten. Eine Untersuchungskommission,
       die seit dem vergangenen Herbst die Fälle untersucht, hat bislang keine
       Ergebnisse vorgelegt.
       
       Auch in Deutschland ist man bisher noch ratlos. Von der Vermutung, dass die
       Fälle in beiden Ländern womöglich zusammenhängen, möchte Wolfgang Heinberg,
       Sprecher des Sankt Marien-Hospitals, gegenüber der taz jedoch Abstand
       nehmen. Man habe die Fälle in regionalen Qualitätszirkeln der Kinder- und
       Jugendärzte thematisiert und Kontakt mit Fachleuten der Charité in Berlin
       aufgenommen. Für eine Aufklärung sei man jedoch auf das Einverständnis der
       Eltern zu weiteren Untersuchungen angewiesen.
       
       „Aktuell liegen keine ausreichenden Informationen vor, um diesen
       Sachverhalt qualifiziert beurteilen zu können“, teilt eine Sprecherin der
       Charité auf Anfrage mit. Ärzt*innen und Ministerien fordern nun die
       Einrichtung eines bundesweiten zentralen Melderegisters für Fehlbildungen
       bei Neugeborenen, um Ursachen und Zusammenhänge in Zukunft schneller
       erfassen zu können.
       
       Ob es sich bei der aktuellen Häufung einer Fehlbildung nun um einen Zufall
       oder eine Auffälligkeit handelt, ist zu diesem Zeitpunkt also reine
       Spekulation. Schlagzeilen wie „Immer mehr Babys ohne Hände geboren: Suche
       nach Ursachen“ (Berliner Morgenpost) oder „Schon drei Kinder ohne Hand in
       Gelsenkirchen geboren“ (Bild) schüren Unsicherheit, Angst und wecken
       Erinnerungen an den [3][Contergan-Skandal] Ende der Fünfzigerjahre. Damals
       hatten Frauen während der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan
       genommen, was weltweit bei 10.000 Kindern zu Fehlbildungen führte.
       
       Die Entscheidung der Hebamme, die Fälle öffentlich zu machen, war richtig
       und wichtig. Für die Eltern, als Netzwerk, um sich mit anderen betroffenen
       Familien auszutauschen, aber auch für die Medizin, damit die Fälle und die
       Ursachenforschung ernst genommen werden; und nicht zuletzt, um Druck auf
       die Politik auszuüben. Bis das aber nicht abgeschlossen ist, ist es wenig
       hilfreich, Entwicklungen zu beschwören, die es womöglich nicht gibt und
       Parallelen zu ziehen, die eben auch mehr verdunkeln können als aufzuklären.
       
       17 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.mhh-phw.de/fruehkindliche-handfehlbildungen
   DIR [2] /Medizinisches-Raetsel-in-Frankreich/!5544779
   DIR [3] /Archiv-Suche/!5363532&s=Fehlbildungen&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Winter
       
       ## TAGS
       
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