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       # taz.de -- Sexueller Missbrauch durch HIV-Arzt: Stell dich halt nicht so an!
       
       > Ein bekannter HIV-Arzt soll seine Patienten mutmaßlich missbraucht haben.
       > Aus der Szene wussten viele von dem Fall. Warum hat nie jemand was
       > gesagt?
       
   IMG Bild: Ein Arzt soll jahrelang Patienten sexuell missbraucht haben, der Prozess beginnt im April 2020
       
       „Es hat uns ja nicht geschadet. Wir haben es doch überlebt“ – wenn in der
       „Szene“ über Übergriffigkeiten, sexuelle Belästigungen und sogar
       Vergewaltigungen unter Männern gesprochen wird, dann wird entweder ein
       Jargon angewendet, der an die „Augen zu und durch“-Plattitüden erinnert,
       die man von der Kriegskindergeneration kennt, oder es wird gewitzelt.
       Meistens aber wird einfach geschwiegen.
       
       Warum eigentlich? Wenn ein Gynäkologe Frauen während der Behandlung sexuell
       belästigen oder missbrauchen würde, würde ihm doch (mittlerweile) auch
       möglichst rasch das Handwerk gelegt. Und wenn ein schwuler Arzt übergriffig
       wird, passiert jahrelang gar nichts?
       
       Eine Geschichte von zu Beginn der Nullerjahre fällt mir ein, die den
       Zusammenhang verdeutlicht. Damals hatte ich einen australischen
       Mitbewohner, Anfang zwanzig muss er zu diesem Zeitpunkt gewesen sein.
       Einmal kam er nach Hause mit Tränen in den Augen, weil er zum ersten Mal in
       seinem Leben Schnee gesehen hatte.
       
       Ein anderes Mal war sein rechtes Auge ganz rot und geschwollen – weil er
       Sperma in sein Auge bekommen hatte. Auf einer schwulen Sexparty. Wir
       mussten beide darüber lachen. Und doch schickte ich ihn zu einem Arzt, der
       auf Geschlechtskrankheiten und HIV spezialisiert war – denn, ja, er hatte
       auch Angst, sich auf diesem Weg womöglich mit dem HI-Virus infiziert zu
       haben. Bei aller guten Laune war er doch auch nervös.
       
       Als er von der Behandlung zurückkam, hatte er eine entzündungshemmende
       Salbe verschrieben bekommen – und war irgendwie verstört: Der Arzt war ihm
       zwischen die Beine gegangen, wollte Sex mit ihm haben, im
       Behandlungszimmer. Gehörte das in Deutschland etwa zu einem Arztbesuch? Wir
       haben gemeinsam darüber gelacht. Gelacht?
       
       Im Nachhinein kann ich mir das nur noch so erklären, dass uns als Reaktion
       nichts Besseres eingefallen ist. Wir waren beide Studierende, er noch dazu
       im Ausland. Er war bei einer schwulen Orgie zugegen gewesen, hatte Angst,
       [1][sich mit HIV infiziert zu haben]. Weder hatte er in diesem Fall den
       Impuls verspürt, mit seinen Eltern zu sprechen noch mit der Polizei, der
       australischen Botschaft oder sonstigen offiziellen Stellen. Schon aus
       Scham.
       
       Und war es nicht irgendwie konsequent, wenn man nach einem
       Risiko-Sexualkontakt in der Obhut eines schwulen Szene-Arztes dem Risiko
       ausgesetzt ist, ebenfalls sexuell adressiert zu werden? Es bleibt ja alles
       in der Szene, in der „Community“.
       
       So oder ähnlich müssen wir uns das wohl damals zurechtgelegt haben, um es
       dann zu vergessen. Geblieben war jahrelang immer nur die „lustige“ Pointe
       mit Sperma im Auge und auch das mit dem Schnee und den Tränen. Der sexuelle
       Übergriff geriet in Vergessenheit.
       
       ## Grenzen deutlich verteidigen
       
       „Tja, mein Lieber, wer sich in Gefahr begibt, der kann auch darin umkommen.
       Hast du dir ja so ausgesucht, nicht?“ Solche und ähnliche Sprüche hatte ich
       jedenfalls im Ohr, nachdem mir als wandelndem „Frischfleisch“ in der Szene
       die ersten Hände ungefragt in die Hose geschoben worden waren und ich erst
       lernen musste, dass ich nun eben „Objekt“ war und mich zur Wehr setzen
       musste. Lernen musste, meine Grenzen ausgesprochen deutlich und notfalls
       auch unter Einsatz körperlicher Kraft – Gewalt – zu verteidigen, „stell
       dich halt nicht so an“.
       
       Beigebracht wurde einem das als Junge eben nicht, vielmehr gehörte der
       Umgang mit solchen Fährnissen zu den Dingen, die man in der Szene halt
       irgendwie lernen musste – und über die man nicht wirklich sprach, schon gar
       nicht mit Außenstehenden. Denn gerade nach außen hatte man ja alle Hände
       voll damit zu tun, an einer positiveren Darstellung unserer Minderheit zu
       arbeiten. Ohne Sperma im Auge, sexuelle Gewalt und lästige
       Infektionskrankheiten.
       
       In den Neunzigern hatte man die Aids-Krise gerade erst einigermaßen in den
       Griff bekommen, nun dominierte das Bild des gesunden, konsumfreudigen
       Homosexuellen, der es gar nicht erwarten konnte, endlich zu heiraten,
       Kinder zu adoptieren und/oder einen Hund zu kaufen. Opfer jedenfalls
       wollte keiner mehr sein, und schon gar nicht vom eigenen Arzt.
       
       Ironisch spricht man vom „dunklen Schattenreich der Homosexuellen“, wenn es
       um Szene-interne Belange geht, Dinge, über die jeder Bescheid weiß und die
       man lieber nicht „an die große Glocke“ hängt. Aber es passieren Dinge, die
       eben doch gravierender sind als ein Verstoß gegen das Rauchverbot im
       Darkroom. Missbraucht zu werden von einer Person, der man seine Gesundheit
       anvertraut hat, ist schrecklich.
       
       Und es ist gut, dass eine [2][neue Generation Queers] herangewachsen ist,
       die ihre sexuelle Orientierung selbstverständlicher und daher auch
       selbstbewusster leben kann. Und so in Zukunft in der Lage ist, die eigene
       Unversehrtheit zu behaupten.
       
       14 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
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