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       # taz.de -- Schloss Neuschwanstein wird 150: Ein verfluchtes Märchenschloss
       
       > Vor 150 Jahren wurde der Grundstein von Schloss Neuschwanstein gelegt.
       > Für König Ludwig II. wurde es zum Unglück. Ein Besuch.
       
   IMG Bild: Für viele Europa-Touristen ist das Schloss ein Foto auf der Bucketlist. Ist ja auch ganz schön.
       
       Ob es ihnen gefallen hat oben auf Neuschwanstein, ist den Menschen nicht
       anzusehen, die hinúnterschleichen zum großen Busparkplatz, von wo aus es
       weitergeht für die Touristen – nach Heidelberg vielleicht, nach Rothenburg
       ob der Tauber, nach Paris, Rom oder London. Drei ältere Damen bleiben noch
       über Nacht in Füssen zu Füßen des Märchenschlosses. Der Anblick des
       Burgneubaus, den der [1][bayerische König Ludwig II.] errichten ließ, hat
       ihnen keinen gute Laune beschwert. Sie unterhalten sich darüber, dass sie
       es partout nicht leiden können, wenn sie beim Essen von ihren Sitznachbarn
       gefragt werden, ob man wohl etwas probieren dürfte.
       
       Manche schwitzen, stöhnen regelrecht beim kurzen Aufstieg vom Parkplatz zum
       Schloss. Wenn sie das beste Selfie mit der Märchenburg im Hintergrund
       machen wollen, müssen sich nach der Führung durch die inneren Gemächer noch
       ein paar Höhenmeter hinauf zur Marienbrücke machen. An einem schönen
       Sommertag kann es gut sein, dass man eine Viertelstunde warten muss, bis
       ein Platz am Brückengeländer frei ist. Das macht nicht jedem Spaß.
       Chinesinnen drängeln, Italiener schieben und Spanierinnen schauen
       demonstrativ auf ihre Uhren. Egal, am Ende ist das Bild im Smartphone: Die
       vielleicht berühmteste Burg der Welt mit gar lieblichen Türmchen malerisch
       in hügeliger Landschaft gelegen – und das ganz ohne Autos, die nach oben
       zum Schloss ja nicht hinaufdürfen. Wo gibt es das denn heute noch? Jetzt
       lächeln und dann runter von der Brücke, zurück zum Parkplatz P1 oder P2.
       Die nächsten warten schon und fangen an zu drängeln.
       
       Mehr als 8.000 Leute sind an manchen Tagen auf der Suche nach dem Zauber
       des Märchenschlosses. 1,5 Millionen [2][Besucher] im Jahr zahlen der
       Bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung in Neuschwanstein Eintrittsgelder
       zwischen 12 und 25 Euro. Dafür dürfen sie durch die königlichen Gemächer
       schlurfen, sich dabei nicht allzu viel Zeit lassen, weil die nächste
       Besuchergruppe ja auch zu ihrem Recht kommen will. Der Geruch der entsteht,
       wenn schwitzende Menschenmassen, die die unterschiedlichsten Duftwasser
       benutzen, ihre Körper durch die royalen Zimmer schieben, ist im Preis
       inbegriffen. Man kann das schrecklich finden. Muss man sich das antun?
       
       „Man sollte es sich nicht entgehen lassen“, meint unten in Füssen einer,
       der es wissen muss. „Es ist ein außergewöhnlicher Ort“, sagt Markus
       Richter, „an dem ein außergewöhnlicher Mensch seine architektonischen
       Spuren hinterlassen hat.“ Er hat jahrelang oben auf dem Schloss gearbeitet,
       war Führer und Kastellan. Hat vier Jahre auf Neuschwanstein gelebt und
       weiß, dass sich der Bau nachts ganz anders anfühlt als tagsüber, wenn die
       ganze Welt auf Besuch vorbeizukommen scheint.
       
       König Ludwig II., der Regent der mit Linderhof und Herrenchiemsee der
       Nachwelt zwei weiter Märchenschlösser hat bauen lassen, wollte unweit des
       damaligen Bauerkaff Schwangau, eine bayerische Wartburg errichten, als das
       Mittelalter längst vorbei war. Schöner sollte sie werden als das Original,
       prachtvoller sowieso. Als vor 150 Jahren der Grundstein für den Bau gelegt
       wurde, da wussten alle, dass es keine echte Burg war, die da errichtet
       werden sollte. Neuschwanstein war von Anbeginn ein Fake, ein schöner Schein
       in Stein. Damals musste der Bau vor allem dem König selbst gefallen. Dass
       er eine Art Weltgeschmack getroffen hat, konnte der König ja nicht ahnen.
       Natürlich weiß auch Richter, dass viele Europareisende mal eben schnell im
       Allgäu vorbeischauen würden, um ein Häkchen zu setzen auf ihrer
       To-Visit-Liste. Aber es gebe eben auch viele, die sich intensiv mit König
       Ludwig beschäftigen würden, die sich anstecken haben lassen von seinem
       irren Leben, die fasziniert sind davon, dass der Tod des Monarchen bis
       heute ungeklärt ist.
       
       Das Ende des Märchenkönigs, es nahm in Neuschwanstein seinen Anfang. In der
       Nacht auf den 10. Juni 1886 kam eine Delegation aus München am Schloss an,
       um dem König mitzuteilen, dass er entmündigt worden ist. Der Monarch,
       dessen architektonische Träume zur Überschuldung Bayerns geführt haben,
       hatte sich schon lange mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
       Man hatte ihn zum Spinner erklärt. Tags darauf wurde er festgenommen, an
       den Starnberger See gebracht. Zwei Tage späte fand man die Leiche Ludwigs
       im seichten Wasser nahe des Ufers.
       
       Hatte Neuschwanstein ihm Unglück gebracht? So direkt möchte das Markus
       Richter nicht sagen. Aber der Tod des Königs reiht sich ein in eine Serie
       von Unglücksfällen, derer es so viele gibt, dass man beinahe von einem
       Fluch sprechen könnte. Verflucht war auch Richters Zeit auf Neuschwanstein.
       Ist es nicht ein Traum, in einer Kemenate auf dem Schloss wohnen zu dürfen.
       „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens“, sagt Richter. Am Ende war
       nichts als Streit. Er musste sich vor Gericht verantworten, weil man ihm
       vorgeworfen hat, bei der Abrechnung der Einnahmen aus den Führungen
       beschissen zu haben. Am Ende wurde er freigesprochen. Das Schloss meidet er
       seitdem.
       
       Und doch mag es ihm nicht aus dem Kopf gehen. So wie ihm lange nicht aus
       dem Kopf gegangen ist, was er eines Morgens von seiner Wohnung im Schloss
       aus gesehen hat. Eine Frau im weißen Kittel stand da an der Brüstung der
       Marienbrücke, die die Schlucht des Gebrichsbachs Pöllat in 90 Meter Höhe
       überspannt. Als er ein paar Minuten später noch einmal zur Brücke schaut,
       sieht er wie die Frau auf die Brüstung steig und springt. Er hat dann noch
       bei der Bergung der Leiche geholfen, was es ihm, so sagt er, nicht gerade
       leichter gemacht habe, das Gesehene zu verarbeiten.
       
       Viel später ist Richter dann ein Buch mit Allgäuer Sagen in die Hand
       gefallen. Eine Geschichte darin hieß der Fluch von Schwanstein und spielt
       in jenen Burgruinen, die einst da standen, wo heute das Schloss ist.
       Demnach hauste dort ein ehemaliger Mönch, der sich mit einer Frau
       zusammengetan hatte, nachdem er die Kasse eines Klosters geplündert hatten.
       Das Gewissen nagte an den beiden, bis sich erst der Mann, und dann die Frau
       in die Pöllatschlucht gestürzt haben. Seitdem, so heißt es in der Sage, sei
       zum 12-Uhr-Läuten in der Nacht oberhalb der Schlucht eine weiß gekleidete
       Frau erschienen, die markdurchdringend geschrien habe. Auf den Monat genau
       20 Jahre, nachdem Richter Zeuge des Suizids geworden war, habe er die Sage
       gelesen. „Ich glaube sicher nicht an Geister, aber das war kein Zufall“,
       sagt Richter, der sich das Grauen rund um die Burg regelrecht von der Seele
       schreibt.
       
       Ein erster Krimi aus Richters Feder, der auf der Baustelle des Schlosses zu
       König Ludwigs Zeiten spielt, ist schon erschienen, „Ins Herz“ heißt der.
       Ein zweiter, „Ohne Herz“, ist schon in der Druckerei und wird dieser Tage
       bei der edition tingeltangel erscheinen. Aus dem realen Sterben um das
       Schloss macht Richter Krimi-Literatur. Er bannt den Fluch auf Papier.
       Aktenkundig ist zum Beispiel der Tod des Bauführers Heinrich Herold im Jahr
       1875. In einer kurzen Notiz einer Dorfchronik ist vermerkt, dass sich der
       Mann mit einem Schuss ins Herz das Leben genommen hat. Markus Richter hat
       sich auf die Suche nach der Geschichte hinter der Geschichte gemacht. Und
       weil nicht viel zu finden war, hat er sich eine ausgedacht, die gruseliger
       kaum sein könnte. Auch die Marienbrücke spielt als Übergang ins Reich der
       Toten ihre Rolle in dem Buch.
       
       Vom Fluch der weißen Frau wissen all die Menschen aus China und Asien
       gewiss nichts, die sich tagtäglich auf dem Brettern über der Schlucht
       fotografieren. Vielleicht aber haben sie vom Ehepaar Cheng gehört. Das ist
       vor drei Jahren mit einem Reisebus aus Österreich ins Allgäu gekommen, um
       sich mal schnell Neuschwanstein anzusehen. Zwei Stunden Zeit ließ man der
       Gruppe, um das Schloss zu besichtigen. Doch die beiden waren zur geplanten
       Abfahrtszeit nicht am Bus. Nur die Pässe der beiden hat man sichergestellt.
       Die hatte der Reiseleiter seinerzeit eingesammelt, um sicherzustellen, dass
       die Touristen auch alle wieder rechtzeitig an Bord sind. Ein Jahr lang hat
       man nach den Chengs gesucht. Vergeblich. Ein verfluchter Fall.
       
       4 Sep 2019
       
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