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       # taz.de -- Lehren aus den Ost-Landtagswahlen: This Land Is Your Land
       
       > 30 Jahre nach 1989 begreifen viele Westdeutsche den Osten noch nicht als
       > ihr Land. Die Wahlen zeigen: Es muss sich etwas ändern – auf beiden
       > Seiten.
       
   IMG Bild: Der Osten gehört uns allen
       
       BERLIN taz | Am Tag nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg
       erreicht uns eine Lesermail: Herr S. aus Niedersachsen schlägt der taz vor,
       die Analyse der Wahlergebnisse mit dem von ihm ausgetüftelten Neologismus
       „NationalOSSIalisten“ zu betiteln. Ebenfalls am Wahlabend ist Boris Becker
       in New York bei den US Open unterwegs. Der einstige Tennisgott nimmt sich
       Zeit, die News zu checken. „Was passiert nur in Deutschland?!?“, schreibt
       Becker überrascht auf Twitter. „Landtagswahlen in Sachsen/Brandenburg …
       müssen wir uns Sorgen machen?“
       
       Als Ostdeutsche möchte man umgehend erwidern: Ja, „ihr“ müsst euch Sorgen
       machen, denn die machen „wir“ uns nämlich auch. Und: Nein, wider Erwarten
       sind keineswegs alle „Ossis“ Nazis. Aber die dahinterliegende Frage lautet
       ja: Wen meint der gebürtige Baden-Württemberger Boris Becker eigentlich mit
       „Wir“? Und auf wen bezieht sich Herrn S.’ vermutlich gar nicht einmal böse
       gemeintes Wortspiel aus „Ossi“ und „Nationalsozialist“? Beide Äußerungen
       verströmen das Odeur eines durchaus Anteil nehmenden, dabei jedoch im
       Grunde unberührbaren Interesses des gefühlten „Wir“ an „denen“. Es handelt
       sich gewissermaßen um eine Art gefühlspolitische Flaschenpost an die
       entfernte Verwandtschaft.
       
       Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall begreifen noch immer viele Westdeutsche
       den Osten nicht als ihr Land. Und auch der Anteil jener Ostdeutschen wächst
       wieder, die sich als unterlegene Gruppe verstehen. Laut einer aktuellen
       Allensbach-Untersuchung stimmen 27 Prozent der Ostdeutschen der Aussage zu,
       „dass es vielen anderen in Deutschland immer besser geht, aber mir nicht“.
       Diese Selbstwahrnehmung mag zu großen Teilen diffusen Gefühlen entspringen.
       
       Von der Hand zu weisen sind sie jedoch nicht, schaut man sich zum Beispiel
       die Daten des Bundesinnenministeriums zu den Unterschieden bei Einkommen,
       Renten und Immobilienbesitz an. Nicht umsonst gewinnen die Rechten dort im
       Osten, wo die Leute wenig besitzen, lange Wege zu den immer weniger
       werdenden Ärzten haben und wo sie meist männlich und nicht mehr jung sind.
       Schon jetzt sind in Ostdeutschland 36 Prozent der EinwohnerInnen älter als
       65 Jahre. Bis 2030 wird ihr Anteil laut Ifo-Institut 65 Prozent betragen.
       
       Wenn es nicht bei diesem Befund bleiben soll, muss sich in diesem Land
       etwas Grundlegendes ändern. Andernfalls – [1][wir sehen es an den
       Wahlerfolgen der rechtsextrem unterwanderten AfD] – übernehmen
       Antidemokraten die Macht. Der Osten wird gekapert und zur Operationsbasis
       für die Zerstörung der Demokratie ausgebaut. Und das beträfe in einem sich
       föderal organisierenden Land dann tatsächlich jede und jeden.
       
       ## Kopfschütteln reicht nicht mehr
       
       Man muss sich die Sache zwischen Ost und West vorstellen wie in einer Ehe,
       bei der Scheidung ausgeschlossen wird: Wenn einer ein Problem hat, haben
       beide eines. Oder, um es mit der Folk-Legende Woody Guthrie zu formulieren:
       „This land is your land“, dieses Land ist dein Land. Aber es ist eben auch
       mein Land: „This land is my land.“ Beides zusammenzubinden wird die Aufgabe
       der allernächsten Zeit sein. Verständnisloses Kopfschütteln über die
       Ostdeutschen und hoffen, dass die Ministerpräsidenten von CDU und SPD in
       Sachsen und Brandenburg das in den kommenden fünf Jahren schon irgendwie
       hinbekommen werden mit der Demokratie, ist keine Option mehr.
       
       Es gibt politische und es gibt psychosoziale Ansätze, um dieses Land doch
       noch zu einem Ganzen zu machen. Die Schlagworte lauten Wandel,
       Wertschätzung und Wortwahl. Und zwar unabhängig von der Himmelsrichtung.
       
       Die Große Koalition in Berlin hat es in der Hand, den strukturellen Wandel
       endlich tatsächlich zu vollziehen, den sie zu ihrem Stolperstart vor zwei
       Jahren zugesichert hat. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Grundrente
       muss endlich kommen. Es geht hier nicht um Almosen für Ostdeutsche –
       gebrochene Erwerbsbiografien finden sich längst auch im Westen. Bund und
       Länder müssen umfassend in Bildung und öffentliche Infrastruktur
       investieren; gute Schulen und Kindergärten müssen für jedes Kind zu haben
       sein. Dass Bildung, auch Berufs- und Hochschulbildung zum Privileg für
       Besserverdienende wird, ist eine Schande. Schnelles Internet ist so
       unabdingbar, dass schon die Forderung danach absurd wirkt. Die Zuwanderung
       muss viel besser organisiert werden, klar.
       
       Aber wer, fragt man sich angesichts von 27,5 Prozent für die sächsische AfD
       und 23,5 Prozent in Brandenburg, wer will denn überhaupt noch nach
       Ostdeutschland zuwandern? Hier kommt die Wertschätzung für sich und andere
       ins Spiel. Niemand geht mit seinem Unternehmen, seiner Familie, seinen
       Ideen in Landstriche, wo die Rechten immer mehr politische Macht erlangen
       und People of color oder Leute, die sich für Bürgerrechte einsetzen, nicht
       mehr sicher sein können. Ein friedliches Leben, ein Platz zum Sein ist die
       Grundbedingung für ein gutes Miteinander.
       
       ## Selbsternannte Sheriffs
       
       Bürgermeister, Ortsbeiräte, Vereine müssen klarmachen, dass Kommunen keine
       völkischen Experimentierfelder sind. Man sieht das an den Wahlergebnissen:
       Wo Politik nicht zaudert, wo sie klar ist, entstehen selbstbewusste
       Gemeinschaften. Wo jeder vor sich hinpusselt und kaum vom anderen weiß, ist
       Raum für selbsternannte Sheriffs und mit Hingabe gebastelte Verbotsschilder
       an jedem Gartenzaun. „This land was made for you and me“, heißt es bei
       Woody Guthrie. Dieses Land ist für mich und für dich gemacht. Für jeden
       also.
       
       Für den Osten gilt zudem, dass er seine Erfolgsgeschichten nicht nur
       selbstbewusst vorträgt, sondern sie endlich in tatsächliche Teilhabe an der
       Macht ummünzen kann. Die Zahlen sind hinlänglich bekannt: Bei einem
       Bevölkerungsanteil von 17 Prozent sitzen lediglich 1,7 Prozent Ostdeutsche
       an Schaltstellen der Macht. Dass endlich Leute aus Mecklenburg oder
       Magdeburg ChefInnen werden in Behörden, Vorständen und an den Universitäten
       und Gerichten, mag dreißig Jahre nach der Wende überkommen wirken.
       
       Ist es nicht egal, woher jemand kommt? Tja, wenn es so wäre, wären die
       guten Jobs gleichmäßiger verteilt. „Dieses Land ist dein Land“ bedeutet
       immer auch, Verantwortung übernehmen zu können. Es bedeutet auf keinen
       Fall, sie widerwillig zugestanden zu bekommen, als eine Art Gnadenakt. Zu
       schauen, wo jemand herkommt, Repräsentanz in Eliten wäre einfach zu
       bewerkstelligen.
       
       Und dann ist da noch die Sprache. Nicht nur die von taz-Leser S. oder vom
       Weltbürger Becker. Auch die Politik hat durchaus noch Spielräume. Wenige
       Tage vor dem Wahlsonntag hat das ZDF dem Bundestagspräsidenten die Frage
       vorgelegt, warum sich Ost und West noch immer fremd sind. Wolfgang Schäuble
       – in der Wendezeit einer der wichtigsten Protagonisten der deutschen
       Wiedervereinigung – hat geantwortet, „die Menschen im Osten“ hätten ab 1990
       viele Veränderungen „ertragen“ müssen. „Ich glaube, wir sollten das
       verstehen.
       
       Wir könnten vielleicht sogar unsere Mitbürger in den neuen Bundesländern
       bitten, uns an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen.“ Wir und die, unsere
       Mitbürger, neue Länder, teilhaben – es war exakt jene nett gemeinte,
       letztlich jedoch zurücksetzende Sprache, die schlicht nicht mehr geht. Mag
       sein, dass das Ossisstreicheln jahrzehntelang seinen Zweck erfüllt hat.
       Nach diesem Sonntag in Sachsen und Brandenburg und vor der Landtagswahl
       Ende Oktober in Thüringen muss derlei aufhören. Dieses Land ist nicht dein
       Land und auch nicht mein Land. Es gehört tatsächlich uns allen.
       
       4 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /AfD-Wahlerfolg-bei-den-Landtagswahlen/!5619629
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Maier
       
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