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       # taz.de -- Filmregisseurin über „Systemsprenger“: „Existenzielles berühren“
       
       > Nora Fingscheidts Filmdebüt „Systemsprenger“ ist für den Oscar nominiert.
       > Ein Gespräch über schwierige Recherchen und aggressive Farben.
       
   IMG Bild: „Wir wollten die Energie von diesem Kind umsetzen, dieses „Zuviel““: Nora Fingscheidt
       
       taz: Frau Fingscheidt, was hat Sie zu [1][„Systemsprenger“] inspiriert? 
       
       Nora Fingscheidt: Ich wollte immer schon einen Film über ein wildes,
       wütendes Mädchen machen, eins, das nicht niedlich ist. Die Story dazu
       musste ich aber erst suchen. Als ich bei einer Auftragsarbeit für [2][die
       Caritas] ein Heim für wohnungslose Frauen in Stuttgart porträtierte, traf
       ich eine Vierzehnjährige, die gerade dort eingezogen war. Damals hörte ich
       zum ersten Mal den Begriff „Systemsprenger“ – ein Kind, das aus sämtlichen
       Systemen herausgefallen ist, durch alle Institutionen durch ist.
       
       Warum hat Sie das fasziniert? 
       
       Das hat einerseits mit mir persönlich zu tun, ich war auch ein recht
       anstrengendes Kind, in der Schule musste ich ständig aus der Klasse raus.
       Ich weiß noch, wie sich das anfühlt, wenn man den Leuten „zu viel“ ist.
       Dennoch bin ich natürlich in einem stabileren Rahmen aufgewachsen.
       Andererseits berühren einen Menschen, die eine krasse, aber destruktive
       Energie ausstrahlen – wenn es sich um Rockstars handelt, himmeln wir sie
       an! Bei Kindern wie Benni ist so etwas jedoch tragisch.
       
       Hatten Sie bei der Arbeit am Film Angst, sich von dieser Tragik zu sehr
       berühren zu lassen, sich nicht distanzieren zu können? 
       
       Es gab eine Zeit in der Recherche, in der es tatsächlich zu viel für mich
       wurde. Alles überlagerte sich, ich sah nur noch Kindesmisshandlung überall,
       konnte nicht mal mehr U-Bahn fahren, ohne dauernd daran erinnert zu werden.
       Mein Weltbild hatte sich wirklich verdüstert. Da musste ich ein Jahr Pause
       machen, habe einen anderen Film gemacht. Danach ging es aber wieder.
       
       In Ihrem Film ist glücklicherweise nicht nur die destruktive Kraft groß,
       sondern Benni wirkt überhaupt sehr stark. 
       
       Wir haben versucht, Leichtigkeit und Humor reinzubringen, eben das
       Kindliche der Geschichte und der Figur zu betonen. Selbst Kinder in der
       Kinderpsychiatrie lachen oft, das ist ein Überlebensinstinkt.
       
       Den größten Tiefpunkt erlebt man in dem Film quasi über Bande, über die
       Figuren, die um Benni herum sind. 
       
       In der Recherche sind mir oft Menschen begegnet, die sich über ihre eigenen
       Grenzen hinaus für ein Kind engagieren, und dann selbst irgendwann an einen
       Tiefpunkt kommen, nicht mehr weiter können. Berufe in der Kinder-und
       Jugendhilfe stellen einen immer vor diese Herausforderung: Du musst dich
       mit den Kindern verbinden, um etwas zu bewirken – aber wenn die Verbindung
       zu tief ist, kann es sein, dass man selbst vor die Hunde geht. Manche
       finden diese Balance – ich nicht, ich würde die Kinder alle adoptieren
       wollen. Obwohl ich als Regisseurin, gerade beim Dokumentarfilm, eh auch in
       meiner Arbeit immer genau diese Balance suchen muss.
       
       Ist Ihr Film auch eine Kritik am bestehenden System, in das sogenannte
       schwierige Kinder geraten? 
       
       Ja, aber die Diskussion müssen andere führen – ich kann von außen
       beobachten, bin keine Fachfrau. Doch ich kann sagen, dass die Menschen in
       den Jugendämtern extrem überlastet sind. Ein Charakter wie Frau Bafané, die
       im Film von Gabriela Maria Schmeide gespielt wird, bestünde im echten Leben
       aus sieben verschiedenen Personen, nicht nur einer. Jede von denen hätte 70
       Fälle auf dem Schreibtisch – wenn kein Kollege krank ist.
       
       Haben Sie Reaktionen aus den genannten Institutionen bekommen? 
       
       Absolut, jede Menge. Wir haben immer noch extrem viele Fachveranstaltungen,
       bis in den Oktober hinein, mit Jugendämtern, Hilfsorganisationen und so
       weiter. Viele bedanken sich dafür, dass es einen Film über ihre Arbeit
       gibt. Manche finden den Film auch unrealistisch – diesen Dialog versuchen
       wir dann zu führen.
       
       Wie lautet die Kritik? 
       
       Zum Beispiel habe ich Dinge verdichtet. Dass der Antiaggressionstrainer
       Micha, gespielt von Albrecht Schuch, Benni zu einem Zeitpunkt mit nach
       Hause nimmt – offiziell würde das kein Helfer tun. Ich habe in der
       Recherche dennoch mit ein paar Leuten gesprochen, die zugaben, so etwas
       getan zu haben. Manche Dinge habe ich vereinfacht – ich habe keinen
       sexuellen Missbrauch mit ins Buch geschrieben, der bei einem Kind wie Benni
       im echten Leben vermutlich eine Rolle gespielt hätte. Das hätte aber ein
       neues Riesenthema aufgemacht, und die Auseinandersetzung mit Bennis Gewalt
       wäre eine andere geworden.
       
       Micha ist eine wichtige Person für Benni, wie haben Sie Albrecht Schuch
       gefunden? 
       
       Das war toll: Am Anfang sah Albrecht ganz anders aus, hatte blondes Haar,
       wie ein Surfer. Wir haben ihm die Haare abrasiert, und dabei kam diese
       wahnsinnig schöne Narbe zutage, die er am Kopf hat – ein Geschenk für die
       Regie, für die Authentizität des Charakters. Die passt so gut zu seiner
       Vorgeschichte! Albrecht hat sich voll reingeschmissen, hat Rollenspiele mit
       Jugendlichen gemacht, Survivaltraining, hat Antiaggressivitätstrainer
       befragt.
       
       Die Musik und die Farbästhetik des Films scheinen Benni widerzuspiegeln. 
       
       Ja, wir wollten die Energie von diesem Kind umsetzen, dieses „Zuviel“ in
       alle Bereiche des Filmemachens transportieren, angefangen mit der
       Geschichte – die ist eigentlich zu lang, man sollte denken: Ich kann nicht
       mehr, wann hört das endlich auf? Das ist aber Absicht! Es hat mit ihrer
       Energie zu tun. Und die Musik, die manchmal nervt und stört, aber auch
       etwas Kindliches hat, der wilde Schnitt, die grellen Farben, die warmen,
       kräftigen Töne wie Rot, Gelb, Orange, Pink – das ist alles eine Übersetzung
       von Bennis Charakter. Die Farben verändern sich im Film ja auch – immer
       wenn sie bei ihrer Mutter war, trägt sie beispielsweise Rot. Ich wollte
       eine sinnliche Erfahrung schaffen.
       
       Wenn man sich die Rezeption und die Preise anschaut, scheint die Geschichte
       universal gut zu funktionieren. Und der Film geht für Deutschland ins
       Oscar-Rennen. 
       
       Ja, wir sind überwältigt. Bis heute hat der Film 21 Preise gewonnen, in den
       unterschiedlichsten Ländern, Taiwan, Chile, der Ukraine … das bläst mir
       fast den Kopf weg! Er scheint etwas Existenzielles zu berühren, vielleicht
       das Bedürfnis des Menschen nach Liebe, und das, was passiert, wenn dieses
       Bedürfnis verweigert wird. Darüber hinaus hat er uns Jobmöglichkeiten
       verschafft – Helena dreht jetzt mit Tom Hanks! Aber ich weiß auch, dass es
       beim nächsten Film wieder ganz anders werden kann.
       
       Nach der Erfahrung mit dem Film – gibt es Ihrer Ansicht nach Kinder, die
       besser nicht in ihrer Familie leben sollten? 
       
       Das ist sehr schwer zu sagen, das muss man nach dem Einzelfall entscheiden.
       Momentan ist der Status quo in der Pädagogik, das Kind so lange wie möglich
       in der Familie zu lassen, egal wie problematisch das Elternhaus ist. Noch
       in den 90ern war das anders, da hat man die Kinder möglichst schnell
       rausgeholt. Es kommt auf die Eltern, die Alternativen, die Art der Hilfe
       an. Ich weiß leider auch nicht, was besser ist.
       
       19 Sep 2019
       
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