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       # taz.de -- Kasse zahlt Downsyndrom-Bluttests: Gewollt ist nur die Norm
       
       > Pränatale Bluttests auf Downsyndrom werden bald die Regel sein. Das
       > Signal ist klar: Wer anders ist, passt nicht in unsere Welt.
       
   IMG Bild: Junge mit Downsyndrom beim Spielen mit Mitschülern auf dem Schulhof der Grundschule Bierstadt
       
       Krankenkassen sollen künftig Bluttests auf Downsyndrom bezahlen. Die Folgen
       sind klar: Es werden weniger Kinder mit Trisomie 21 zur Welt kommen. In
       Dänemark, wo seit 2005 allen Schwangeren eine Risikoabschätzung auf
       Downsyndrom angeboten wird, hat sich die Zahl der damit geborenen Kinder
       halbiert.
       
       Zwar entschied der Gemeinsame Bundesausschuss, ein Gremium aus ÄrztInnen
       und VertreterInnen von Krankenkassen, dass der Test nur für Schwangere mit
       besonderem Risiko [1][bezahlt werden soll]. Derzeit ist er ab etwa 120 Euro
       privat erhältlich, die Nachfrage steigt. Doch die Risikodefinition ist nun
       so vage gehalten, dass ihn jede Schwangere bekommen kann, die sich Sorgen
       macht. Der Test dürfte zur Regel werden.
       
       Das Gremium entscheidet nach medizinischen, nicht nach ethischen
       Kritierien. Waren Fruchtwasseruntersuchungen mit dem Risiko einer
       Fehlgeburt behaftet, ist der Bluttest risikolos – in der Logik des Systems
       ist die Entscheidung nachvollziehbar. Doch manchmal geraten Systeme an ihre
       Grenzen. Hier liegen sie darin, dass der Test keine mögliche Erkrankung
       prognostiziert, sondern eine Abweichung von der Norm sichtbar macht.
       
       Weder die Gesundheit der Schwangeren noch des Kindes kann durch ihn
       verbessert, nichts kann geheilt werden. Deswegen kocht die Debatte nun
       hoch. Es wird mehr verhandelt als die Finanzierung eines Tests auf Trisomie
       21. Die Frage ist: in welcher Gesellschaft wollen wir leben?
       
       ## Wie gehen wir damit um?
       
       Soll ein Kind mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt kommen? Oder eines
       mit veränderten Geschlechtschromosomen, also etwa Klinefelter- oder
       Turner-Syndrom, deren TrägerInnen zum Teil nicht einmal wissen, dass sie
       betroffen sind? Soll ein Embryo mit Diabetes ausgetragen werden? Oder
       einer, dessen Genom Hinweise darauf gibt, dass später Probleme mit der
       Immunabwehr wahrscheinlich sind?
       
       Der Test auf Trisomie 21 ist nicht das Ende der Entwicklung, sondern der
       Anfang. Das Genom eines Embryos kann heute vollständig analysiert werden.
       Schon jetzt sind Bluttests für einige der genannten Syndrome und
       Auffälligkeiten auf dem Markt. In den nächsten Jahren werden mehr Tests
       kommen. Die mögliche Erkenntnis, die mit ihnen gewonnen werden kann, ist so
       grenzenlos, wie sie überfordern kann. Wie gehen wir damit um?
       
       ## Die Abbruchraten sind hoch
       
       Die Abbruchraten, wenn derlei Abweichungen von der Norm festgestellt
       werden, sind hoch. Bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, umgangssprachlich als
       Hasenscharte bekannt, liegen sie laut einer Zusammenfassung von Studien aus
       mehreren Ländern bei mehr als der Hälfte.
       
       Es mag paradox klingen, für das uneingeschränkte Recht auf
       Schwangerschaftsabbrüche einzutreten und trotzdem gegen die Einführung
       solcher Tests als Kassenleistung zu argumentieren. Aber das Problem ist
       nicht die Entscheidung, die eine Frau trifft, sondern die Gesellschaft, die
       Kinder mit Beeinträchtigungen diskriminiert.
       
       ## Auf dem Rücken von Schwangeren
       
       Das Signal, das vom krankenkassenfinanzierten Test auf Trisomie 21 ausgeht,
       ist deutlich: erwünscht ist, was der Norm entspricht, perfektioniert nach
       Kriterien der Leistungsgesellschaft. Wer anders ist, passt nicht in unsere
       Welt.
       
       Das Spektrum dessen, was wir als gesund und lebenswert verstehen, verengt
       sich. Der Druck, den Test zu machen, wird steigen, und nach der Diagnose
       muss entschieden werden. Auf dem Rücken von Schwangeren wird ausgetragen,
       was gesellschaftlich debattiert werden sollte.
       
       ## Wie weit wollen wir gehen?
       
       Der politische Prozess immerhin, sich mit den Bluttests auseinander zu
       setzen, hat im April begonnen, als eine interfraktionelle Gruppe den
       Bundestag fragte: „Wie weit wollen wir gehen?“ Angeboten werden soll der
       Test auf Trisomie 21 ab Herbst 2020.
       
       Wie sich ein gesetzgeberisches Verfahren bis dahin entwickelt, ist momentan
       nicht absehbar. Möglich wäre von Verboten bis zu einer Liberalisierung
       alles. Derzeit geht der Trend dahin, Menschen zu optimieren. Aber das Ziel
       sollte sein, die Bedingungen zu optimieren, unter denen wir leben.
       
       19 Sep 2019
       
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