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       # taz.de -- Fußballkultur und Mauerfall in Berlin: „Alle lagen sich in den Armen“
       
       > Die Reihe „Fußball ohne Mauer“ verbindet Sport und Mauerfall. Es geht um
       > Fußball-Biografien in Berlin und Freundschaften über die Mauer hinweg.
       
   IMG Bild: Rohr-frei vs. Teddybär: So sah der „Fußball-Gipfel“ zwischen Hertha und Union nach Mauerfall aus
       
       Berlin taz | Als Axel Kruse in der Bundesrepublik ankam, landete er erst
       mal auf der Reeperbahn. Eine Flucht mit Fähre und Auto über Dänemark hatte
       er hinter sich. Er war von seinem DDR-Klub Hansa Rostock während eines
       Auswärtsspiels in Kopenhagen geflüchtet. Ein Fluchthelfer hatte den Spieler
       in der Nähe des Teamhotels abgeholt. Vorher hatten sie ein Codewort per
       Postkarte abgemacht: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Herr Jakob.“
       
       Die Flucht führte bis Hamburg, die Nacht verbrachten sie auf der
       Reeperbahn. „Und ich 21-jähriger doofer Ossi dachte: Oh Gott, hoffentlich
       hab ich keinen Fehler gemacht.“ Um sechs Uhr am nächsten Morgen reiste
       Kruse weiter nach Westberlin, er schloss sich Hertha BSC an, Kontakt gab es
       schon vorher.
       
       Die Leute, sagt er heute, wunderten sich: Der Kruse ist geflüchtet, und
       dann geht er freiwillig dorthin, wo er wieder eingemauert ist? „Aber das
       ist doch Quatsch. Es geht nicht darum, eingemauert zu sein, sondern darum,
       tun zu können, was man will. Ich hatte mich nie so frei gefühlt wie in
       Berlin.“ – Vier Monate später ging die Mauer auf. „Und ich war erst mal
       echt sauer: Die Kommunisten können jetzt alle umsonst rüber?“
       
       Es sind Sätze wie diese, die die Veranstaltungsreihe „Fußball ohne Mauer“
       unterhaltsam machen. In einer Kooperation haben das Fanprojekt Berlin,
       Gesellschaftsspiele e. V., das Lernzentrum und die Fanbetreuung von Hertha
       BSC die Reihe organisiert, die zeigen soll, dass der Mauerfall „kein von
       Fußball und Fankultur losgelöstes Ereignis“ war.
       
       ## Fan-Freundschaft zwischen Hertha und Union
       
       Auf dem voll besetzten Podium sind Fans, Spieler und Spielerinnen und
       Vereinsverantwortliche von Berliner Klubs aus Ost und West geladen. Vor
       allem eins wird deutlich: dass die Ossi-oder-Wessi-Identitätsthesen der
       letzten Jahre, bei aller Notwendigkeit einer Grundsatzdiskussion, zu kurz
       greifen. Weil Identitäten sich aus vielen Einflüssen speisen und sowieso
       gerade in Berlin viele Familien Ost- und West-Vergangenheiten haben, die
       Unterschiedliches bewirkten, mal Verständnis für die Seite jenseits der
       Mauer, mal Ablehnung. So verwoben auch alles, dass einige Fanszenen und
       Vereine eine Freundschaft oder Vereinsliebe jenseits der Mauer pflegten, am
       berühmtesten die Fanfreundschaft zwischen Hertha und Union. Und trotzdem
       mit dem Fall der Mauer heftig Verschiedenes aufeinanderprallte.
       
       Kruse, geflüchtet aus Rostock, heimisch geworden bei Hertha, ein
       bodenständiger Typ mit angenehmer Direktheit, ist die Hauptfigur des
       Abends. Es geschieht selten, einen Ex-Fußballer auf dem Podium zu haben,
       der kaum nach Fußball gefragt wird. Es drängt sich der Gedanke auf, dass
       man so etwas öfter mal tun könnte. Kruse, aufgewachsen in einem kleinen
       Dorf, erlebte eine geteilte Familie: drei Geschwister des Vaters flohen in
       den Westen. Da seien die ganzen Faschisten, erklärte man ihm in der Schule.
       Als er elf Jahre alt war, kamen aber die Westverwandten zu Besuch und
       stellten sich als recht nett heraus, ihm kamen erste Zweifel.
       
       Als Fußballer lebte Kruse privilegiert, durfte ins nichtsozialistische
       Ausland reisen. „Die Flucht war keine finanzielle Entscheidung.“ Er wollte
       Freiraum, „jeder Mist wurde einem in der DDR vorgeschrieben“. Er wolle sich
       zum Beispiel nicht für Abwesenheit auf der Hausversammlung rechtfertigen
       müssen. Aber erst, als die Stasi den jungen Spieler verhörte und
       verdächtigte, fliehen zu wollen, kam ihm tatsächlich der Gedanke an Flucht.
       Im Juli 1989 war er drüben.
       
       Beim ersten Wiedervereinigungsspiel 1990, Hertha gegen Union, lief Axel
       Kruse für Hertha auf und erzielte das Führungstor. Ein Symbolakt, der doch
       so recht keiner war. „Ich habe diese Trennung in Ost/West sofort nach 1989
       abgehakt.“ Und das Spiel? „Es war arschkalt und alle lagen sich in den
       Armen.“ Hertha siegte vor 51.000 Zuschauern mit 2:1. Gegen einige anwesende
       BFC-Fans verbündeten sich Herthaner und Unioner mit „Stasi raus“-Rufen,
       größere Gewalt wurde irgendwie verhindert. Beim Rückspiel in Köpenick,
       sinnbildlich für die abnehmende Wende-Euphorie, waren es dann nur noch rund
       3.000 Zuschauer.
       
       ## Ost-West-Runde ohne gegenseitige Vorwürfe
       
       Das Podium ist launig, anekdotenhaft und frei von Wut. Eine Ost-West-Runde,
       die ohne dauernde gegenseitige Vorwürfe auskommt und trotzdem angeregt
       diskutiert: Warum die Berliner eigentlich toleriert haben, so lange geteilt
       zu sein? Warum ihnen allen diese Mauer damals so normal, so egal erschien?
       Wie man nach dem Mauerfall miteinander umging …
       
       Die Unsicherheiten auch im Westen fasst Christian Wille, Vorsitzender des
       Friedenauer TSC, beiläufig zusammen, als er erzählt, wie er und sein Team
       sich bei einem Turnier im ehemaligen Osten nach der Wiedervereinigung
       scheuten, mit den coolen Adidas-Klamotten hinzufahren. Sie fuhren in
       anderen Klamotten, der Hallenboden war glatt, die Wessis kriegten „in jedem
       Spiel Haue“. Vereinsfreundschaften in den Osten aber pflegten auch sie,
       nach Babelsberg, schon vor dem Mauerfall. Ein Westberliner Fan, heißt es
       übrigens, sei damals so in die DDR vernarrt gewesen, dass er bei Union als
       Ordner arbeitete, mit Tagesvisum. Dinge gibt’s.
       
       Sehr anschaulich erzählt die Feinheiten der Identität Carsten Bangel, heute
       Stadionsprecher von Tennis Borussia und aufgewachsen in Westberlin. Sein
       Vater sei aus Sachsen-Anhalt. Zufällig war er 1961, als der Mauerbau
       begann, im Ostsee-Urlaub und machte rüber in den Westen. „Mein Vater war
       heftiger Antikommunist, das war zu Hause immer Thema. Aber man ist davon
       ausgegangen, die Situation mit der Teilung ist jetzt so, und die ändert
       sich nicht.“ Bangel junior wiederum sah sich links, entdeckte die
       Westberliner Subkultur und hörte später DDR-Punk.
       
       Heute sagt er Sätze wie diesen: „In Berlin wurde Hedonismus gelebt, eine
       gewisse Gleichgültigkeit. Dieses Westberlin ist genauso verschwunden wie
       der alte Osten.“ Und als die Mauer dann fiel ud die Biotope sich
       vermischten, waren die Differenzen unter den Fanlagern manchmal heftiger
       als erwartet. „Fußball im Osten war für uns brave TeBe-Fans ein
       Kulturschock“, sagt Bangel. TeBe war vielen im Osten der Inbegriff
       westlicher Dekadenz und Feindbild. Die Feindbilder „reicher Verein“ und
       „jüdischer Verein“ haben sich dann auch gemischt. Und der Ruf
       „Juden-Berlin“ war im Osten sowieso völlig normal – Gewalt, Rassismus,
       Rechtsradikalismus, und plötzlich ist man zurück in der Gegenwart. Aber nur
       kurz.
       
       23 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
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