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       # taz.de -- Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: Von Auszehrung bedroht
       
       > Nach dem Abtritt von Frank Bsirske übernimmt Frank Werneke den Vorsitz
       > von Verdi. Die einst größte Gewerkschaft verliert Mitglieder.
       
   IMG Bild: Wie die Sozialdemokratie steckt auch die Gewerkschaftsbewegung in der Krise
       
       Berlin taz | Ende einer Ära: Wenn in knapp zwei Wochen die Vereinte
       Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zu ihrem 5. Bundeskongress zusammenkommt,
       wird ein Hauch von Wehmut über dem Leipziger Messegelände wehen. Unter dem
       Motto „Zukunftsgerecht“ werden vom 22. bis zum 28. September rund 1.000
       Delegierte über mehr als 1.000 Anträge beraten. Im Mittelpunkt des Events
       steht eine Wachablösung. Nach mehr als 18 Jahren an der Spitze [1][nimmt
       Frank Bsirske seinen Abschied]. An die Stelle des dienstältesten deutschen
       Gewerkschaftschefs soll sein bisheriger Stellvertreter Frank Werneke
       treten.
       
       Seit der Gründung von Verdi – also seit der Fusion der Gewerkschaft
       Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Gewerkschaft Handel,
       Banken und Versicherungen (HBV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), der
       IG Medien sowie der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) im März 2001
       – führt der Niedersachse Bsirske die Multibranchenorganisation an.
       Angehörige von mehr als tausend Berufen organisiert Verdi – von der
       Straßenbahnfahrerin über die Bankangestellte bis hin zum Krankenpfleger.
       Noch ist die Gewerkschaft unterteilt in dreizehn Fachbereiche. Die sollen
       jetzt auf fünf reduziert werden, beispielsweise durch die Zusammenfassung
       der Beschäftigen in der Finanzbranche mit denen der Medien und der
       Müllabfuhr.
       
       Mit dem Zusammenschluss der fünf Gewerkschaften 2001 verbunden war die
       Hoffnung, die bereits damals deutlich spürbare Erosion gewerkschaftlicher
       Organisierung stoppen zu können. Das ist nicht gelungen. Bei ihrer Gründung
       verzeichnete Verdi noch mehr als 2,8 Millionen Mitglieder und bezeichnete
       sich stolz als die größte Gewerkschaft Europas. Heute sind es nur noch um
       die 1,9 Millionen, fast ein Drittel weniger. Größte DGB-Gewerkschaft ist
       inzwischen die IG Metall – weil deren Aderlass geringer war.
       
       Frank Werneke weiß, welch schweres Erbe er antritt. Wie Bsirske gehört der
       Ostwestfale seit der Gründung dem Verdi-Bundesvorstand an, 2002 wurde er
       dessen Stellvertreter. Der rhetorisch eher blasse Werneke verkörpert den
       Typus des technokratischen Gewerkschaftsfunktionärs, mehr Manager denn
       Arbeiterführer. Klassenkämpferische Attitüden sind ihm fremd. Im Gegensatz
       zu Bsirske, der sich gern auch mal bärbeißig gab und mitunter kräftig
       austeilen konnte, pflegt er den unverbindlich freundlichen Ton.
       Begeisterungsstürme lösen seine Auftritte selten aus.
       
       ## Die Wahl von Werneke ist eine Formsache
       
       Die Wahl des gelernten Verpackungsmittelmechanikers zum neuen Verdi-Chef
       dürfte nicht mehr als eine Formsache sein. Bereits vor einem Jahr hatte
       eine innerverbandliche Findungskommission den 52-jährigen Sozialdemokraten
       als Nachfolger für den 67-jährigen Grünen auserkoren. Im November 2018
       folgte Wernekes offizielle Nominierung durch den ehrenamtlichen
       Verdi-Gewerkschaftsrat. Der Bundeskongress dürfte dem Votum mit großer
       Mehrheit folgen. Ein Wahlergebnis unter 90 Prozent gilt als
       unwahrscheinlich. Als gleichberechtigte Stellvertreterinnen werden Andrea
       Kocsis, die dieses Amt seit 2007 innehat, und Christine Behle kandidieren.
       SPD-Mitglied Behle gehört seit 2011 dem Verdi-Bundesvorstand an.
       Gegenbewerberinnen sind nicht in Sicht.
       
       Um seine Aufgabe ist das neue Trio nicht zu beneiden. Mit etlichen
       Baustellen werden sich Werneke, Kocsic und Behle herumzuschlagen haben. Das
       gilt nicht zuletzt für die harte Dauerauseinandersetzung mit Amazon. Seit
       rund sechs Jahren versucht Verdi nun mit einer Strategie der Nadelstiche
       tarifvertraglich geschützte Einkommens- und Arbeitsbedingungen bei dem
       Internetversandhändler durchzusetzen. Immer wieder ruft die Gewerkschaft
       die Beschäftigten an einzelnen oder mehreren Amazon-Standorten zu
       temporären Streiks auf. Doch bisher hat sie nicht einmal die Aufnahme von
       Gesprächen durchsetzen können. Der Konzern sitzt die Auseinandersetzung
       einfach aus.
       
       Wie die Sozialdemokratie steckt auch die Gewerkschaftsbewegung in einer
       tiefen Krise – und das gilt nicht nur für Verdi. 1990 gehörten noch mehr
       als 11 Millionen Menschen einer DGB-Gewerkschaft an, mittlerweile
       verzeichnet der Dachverband weniger als 6 Millionen Mitglieder – und das
       bei steigenden Beschäftigtenzahlen. Um die Dramatik zu verdeutlichen: 1950
       hatte der DGB 6,1 Millionen Mitglieder, also mehr als heute, obwohl
       Ostdeutschland nicht dabei war. Damals gab es in der Bundesrepublik 19,6
       Millionen Erwerbstätige. Inzwischen sind es mehr als 45 Millionen.
       
       Der gesunkene Organisierungsgrad wirkt sich auf die Kampfkraft der
       Gewerkschaften aus. Wie sehr die in den vergangenen Jahrzehnten gelitten
       hat, illustriert die dramatische gesunkene Tarifbindung in Deutschland:
       2001 war das Arbeitsverhältnis von 71 Prozent der Beschäftigten im Westen
       und 56 Prozent der Beschäftigten im Osten durch einen Tarifvertrag
       geregelt. 2018 galt das nur noch für 56 Prozent im Westen und 45 Prozent im
       Osten. Die Folgen sind gravierend. Denn Beschäftigte in einem
       nichttarifgebundenen Betrieb verdienen im Mittel fast 15 Prozent weniger
       als ihre Kolleginnen und Kollegen in einem vergleichbaren tarifgebundenen
       Betrieb.
       
       Dabei täuschen diese Zahlen. Denn sie beinhalten auch den öffentlichen
       Dienst, der sich durchweg in der Tarifbindung befindet – und in der der
       Organisationsgrad Verdis nach wie vor hoch ist. In der Privatwirtschaft
       sieht es weitaus schlechter aus. Alle Räder stehen still, wenn dein starker
       Arm es will – jene alte Losung der Arbeiterbewegung gilt vielerorts längst
       nicht mehr.
       
       11 Sep 2019
       
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   DIR Pascal Beucker
       
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