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       # taz.de -- Neues Album von Equiknoxx: Kindsköpfe mit ganz viel Bass
       
       > Mit ihrem neuen Album „Eternal Children“ mixt die Kingstoner Crew
       > Equiknoxx Dancefloor und Globalpop in den jamaikanischen Klangkosmos.
       
   IMG Bild: Equiknoxx chillen auf einem Spielplatz in Kingston
       
       Jamaika und vor allen Dingen bestimmte Bezirke seiner Hauptstadt Kingston
       gelten seit den Neunzigern als Gefahrengebiete. Führende Industrienationen
       sprechen regelmäßig Reisewarnungen aus, weil es dort zu Schießereien und
       Ganggewalt kommt und die Mordstatistiken so hoch sind, dass sie es durchaus
       mit den US-Metropolen Chicago und Baltimore aufnehmen. Der Soundtrack zur
       Gewaltspirale: Dancehall. Ein Genre, das für Slackness, machistisches
       Gepose und Gnadenlosigkeit bekannt ist.
       
       Das Jamaika auch anders, sogar komplett anders klingen kann, zeigt eine
       junge Kingstoner Combo namens Equiknoxx, die aus den beiden Produzenten
       Gavin „Gavsborg“ Blair und Jordan „Time Cow“ Chung und den drei
       Vokalist*innen Kemikal, Bobby Blackbird und Shanique Marie besteht. Den
       Paradigmenwechsel – weg von „dicker Hose“ hin zu grandioser,
       anschlussfähiger Bassmusik – vollzog man schon auf den beiden ersten Alben
       „[1][Bird Sound Power]“ und „[2][Colón Man]“.
       
       Auf dem Neuling „Eternal Children“ zeigt sich ihre Klangsignatur erstmalig
       in vollem Glanz. Das beginnt schon beim Titel und beim Äußeren des Albums:
       „Eternal Children“, ewige Kindsköpfe, kümmert Waffengewalt eher nicht.
       Stattdessen [3][spielen] und testen sie munter aus; unterstrichen wird
       diese raffinierte Inszenierung von der naiv infantil anmutenden Zeichnung
       auf dem Cover, die an Höhlenmalerei erinnert, doch Filzstift auf Leinen
       darstellt. Es ist wohl als Selbstbildnis der fünf Musiker*innen zu
       verstehen, die sich selbst und dem Genre einen unbeschwerten Neustart
       verschaffen wollen.
       
       ## Meilenweit von Dancehall-Klischees
       
       „Eternal Children“ ist meilenweit von jenen Dancehall-Tracks und
       -Künstler*innen entfernt, die es in die europäischen Hallen und
       Zeitschriften schaffen. Ob Beenie Man oder die Rowdy-Gruppe T.O.K.:
       berühmt-berüchtigt sind sie vor allen Dingen wegen ihrer
       frauenverachtend-sexistischen und homophoben Gewaltfantasien, die in
       sogenannten Battyman-Tunes das (angeblich spirituelle) Verbrennen von
       homosexuellen Menschen fordern.
       
       Diese inhaltliche Hypothek belastete und spaltete nun fast 20 Jahre die
       interessierte Popszene: Auf der einen Seite gibt es jene, die Dancehall
       verteufeln und ein strukturelles Problem der gesamten Kultur propagieren,
       andererseits gibt es genügend Freunde von Dancehallsound, die im besten
       Falle die homophoben Vergewaltigungsfantasien als Satire kennzeichnen und
       daher lieber die Instrumentals auflegen. Zwischen diesen Polen befindet
       sich eine lose Gruppe an Kritiker*innen, die zugesteht, dass alle
       Battyman-Tunes verboten gehören, die generelle Abstrafung jamaikanischer
       Dancehall-Künstler*innen aber moralinsauer findet.
       
       Jener Haltung schließen sich auch ein Großteil der Jamaikaner*innen an, wie
       die Professorin und Autorin Carolyn Cooper vor einigen Jahren bei Lesungen
       in Deutschland erzählte. Eines der großen Probleme in diesem Zusammenhang
       ist sicherlich die Divergenz zwischen jamaikanischem Selbstverständnis und
       europäischer Lektüre, die nicht selten mit exotisierenden, kolonialen
       Erzählungen d’accord geht. Bestes Beispiel: [4][Daggering], die karibische
       Tanzvariante, die die Differenz zwischen Tanz und Sex bis auf das Äußerste
       aufweicht, beziehungsweise verschwimmen lässt. Hierzulande lacht man
       darüber oder gibt sich etwa empört, dass das rassistische Bild des sexuell
       entfesselten und damit „wilden“ Schwarzen aufgerufen wird.
       
       ## Kulturgut Daggering
       
       In Jamaika selbst ist Daggering Kulturgut und wird sogar an Schulen
       gelehrt. Das Kollektiv Equiknoxx hingegen überwindet auf „Eternal Children“
       jenen Graben und verbindet gekonnt europäische Techno-Avantgarde,
       karibischen Sound und globalen Pop. Schon die beiden Vorgänger-Alben wurden
       nicht etwa in Kingston veröffentlicht, sondern gleich in Manchester von den
       Soundtüftlern Demdike Stare und ihrem Label DDS. „Bird Sound Power“ und
       „Colón Man“ überzeugten erst die Kritiker*innen und bahnten sich dann
       langsam in die DJ-Sets britischer DJs.
       
       Dieser Kooperation, diesem Austausch mit der nordenglischen Industriestadt,
       ist der Track „Manchester“ gewidmet. Hier hört man gleich, dass Equiknoxx
       nicht bloß ein weiteres Dancehall-Soundsystem darstellt, sondern konsequent
       an einer Weiterentwicklung der Dancehall-Formeln arbeitet. Wo man vorher
       Riddims mit ungewohnten Samples (zum Beispiel Vogelgezwitscher) bestückte,
       werden jene Instrumentalstücke nun sowohl um den Gesang der drei
       Vokalist*innen ergänzt als auch um soundästhetische Einflüsse aus anderen
       Ecken erweitert.
       
       Wie eben England: [5][„Manchester“] sampelt eine Ska-Trompete, thematisiert
       im Handstreich die transatlantische musikalische Ehe, die Großbritannien
       und Jamaika einst beim Ska eingingen, und klingt nur noch entfernt nach
       dem, was man gemeinhin unter Dancehall verstehen mag. Es klingt beim
       genauen Hinhören nach wenig, was man zuvor gehört haben mag; dieses Hybrid
       ist affirmativer Bass-Sound mit HipHop-Einflüssen und einem Auge für den
       gepflegten Club-Dancefloor.
       
       ## Hyperaktives Auf-und-Ab-Hüpfen
       
       Der Track [6][„Corner“] geht sogar einen Schritt weiter. Man kommt nicht
       umhin, diesem dritten Titel des Albums das Label „Grime“ zu geben. Der
       britische Mischmasch aus Drum ’n’ Bass und HipHop, mit seinen bösen
       Basslines, ist hier das Bett für die DeeJay (das jamaikanische Pendant zum
       US-Rapper) Shanique Marie, die sich im Patois-Sprechgesang verewigt.
       Ähnliche – wohlgemerkt positive – Auflösungserscheinungen finden sich auch
       in Bezug auf das US-Sound-Universum. [7][„Brooklyn“] gibt schon mit dem
       Titel den Ort seiner geistigen Genese preis; hyperaktiv mit 150 Schlägen
       pro Minute, die auf und ab hüpfen, außerdem angetrieben von leicht müden
       Claps, erinnert das sehr an die (queeren) Bassmusik-Exkurse, mit denen vor
       einiger Zeit Künstler wie Le1f oder Zebra Katz reüssierten.
       
       Shanique Marie, hier eher shoutend, denn rappend, fordert in der Bridge
       dazu auf, die Finger von ihrer Krone zu lassen. „Please take your hands off
       my motherfucking crown“ – im Hause Equiknoxx ist man sich bewusst, dass der
       Ausflug in Pop-Gefilde zu höchsten Weihen reichen könnte.
       
       Schon in den Siebzigern bestand zwischen den HipHop-Jams in New York und
       der Soundsystem-Kultur eine strukturelle Verwandtschaft, nicht zuletzt
       befeuert durch die karibische Diaspora an der US-Ostküste. Zeitgenössische
       US-Rapper sind unterdessen ebenfalls wieder aufmerksam geworden und schauen
       leicht neidisch auf die Equiknoxx-Riddims, die ihnen gut zu Gesicht stehen
       würden.
       
       Dass diese Ehe ideal sein kann, bewiesen bereits Missy Elliott und
       Timbaland, die als Produzent*innen Anfang der Nuller mit
       Dancehall-Beats reihenweise Chartsstürmer und Klassiker des Genres
       veröffentlichten. Heute, 20 Jahre später wird „Eternal Children“ zur
       Kampfansage: Liebe Amis, diesmal machen wir Jamaikaner das aber selbst! Mit
       der Perfektion eines hoch-ausgezeichneten Produzententeams, treiben es
       Equiknoxx beim Finale „Rescue Me“ auf die Spitze.
       
       ## Und wieder kein Hungerast!
       
       Hier entsteht aus einer rauschenden Wall of Sound ein wärmendes Duett
       zwischen Bobby Blackbird und Shanique Marie. Herzzerreißend schöner,
       mitsingbarer Pop – nicht mehr, nicht weniger. In bester Balladentradition
       umspielen sich die beiden Schmachtenden, verführerisch wie zwei, die
       wissen, dass das Feld bestellt ist, doch die Frage nach dem
       Beziehungsstatus noch nicht gestellt wurde – untermalt von Gitarrenlicks
       und einem feinen Beat. Das klingt gar nicht mehr nach Dancehall, sondern
       nach The xx und ähnlichen Indie-Pop-Entwürfen, die den weiblich-männlichen
       Wechselgesang perfektioniert haben.
       
       Wer befürchtete, dass Equiknoxx den Hungerast erleiden, der muss hier
       vertröstet werden. Mit einer fast schon brisanten Genialität vermag die
       Gruppe nicht nur die jamaikanische, sondern glatt die globale
       (Bass-)Musik-Elite zu [8][fesseln], eine ganzes Genre neu aufzustellen und
       zu verändern.
       
       13 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=OlUGrzqyAzA
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=onDfMqvnEis
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=IxwspQqKlTg
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=N-be-bEdb48
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=M1zojb_K1gc
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=zPkWUFaqVV0&list=RDzPkWUFaqVV0&start_radio=1
   DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=nKoSL05Dhdo&list=RDzPkWUFaqVV0&index=2
   DIR [8] https://www.youtube.com/watch?v=9NkoekZzf7E
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Fleischmann
       
       ## TAGS
       
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