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       # taz.de -- Prostitution in Berlin: Ein offener Blick auf den Strich
       
       > Der katholische Verband für Frauensozialarbeit führt durch die
       > Kurfürstenstraße in Tiergarten und gibt Einblicke ins Thema Sexarbeit.
       
   IMG Bild: Polizeieinsatz in der Kurfürstenstraße
       
       Wie ist zu erkennen, welche der Frauen auf dem Strich selbstbestimmter
       Sexarbeit nachgehen und welche in Zwangsprostitution verstrickt sind? „Gar
       nicht“, erklärte die Sozialarbeiterin Barbara Ehret am Samstag bei einer
       „Kieztour mit Herz“ durch den Kurfürstenkiez in Tiergarten.
       
       Ehret arbeitet bei IN VIA, einem katholischen Verband für
       Frauensozialarbeit im Berliner Erzbistum. Der Verband ist unter anderem
       Träger von aufsuchender Sozialarbeit bzw. einer Beratungsstelle für
       Sexarbeiterinnen in Berlin, Brandenburg und im grenzüberschreitenden Raum.
       „Bis 15 Kilometer nach Polen hinein sind wir zuständig, denn es sind
       deutsche Freier, die dort hinfahren“, weiß Ehret.
       
       Die „Kieztouren mit Herz“ werden seit 2016 von kirchlichen Organisationen
       veranstaltet und sollen unter dem Titel „Ich zeige dir mein Berlin“
       Einblicke in marginalisierte Lebenswelten in der Stadt erlauben. Etwa 30,
       vorwiegend ältere Personen sind gekommen, um sich über das Leben von
       Sexarbeiterinnen zu informieren. Vorherige Touren hatten Wohnungslosigkeit
       und das Leben im Gefängnis zum Thema.
       
       Eine Zehlendorfer Katholikin zeigt sich enttäuscht, dass die Sexarbeiterin,
       die aus ihrem Leben berichten sollte, kurzfristig abgesagt hat. „Im
       Gefängnis konnte man mit einem ehemaligen Gefangenen sprechen. Hier gibt es
       ja nichts zu sehen“, meint sie und entfernt sich in Richtung U-Bahn.
       
       Eine junge Frau hätte sie sehen können, die mit einem Energydrink in der
       Mittagssonne wartet und die Kieztour-Gruppe skeptisch beäugt. Und die
       Mittfünfzigerin im Kostüm und mit suchendem Blick. Auch die Neubauten in
       der Genthiner Straße hätte sie wahrnehmen können, die den Strich zu
       verdrängen drohen. „Wie lange hält sich das hier noch?“, fragt Barbara
       Ehret, „Und wo gehen die Sexarbeiterinnen dann hin?“
       
       Der Tenor in den Gesprächen beim Rundgang: Vorurteilsfrei müsse sich die
       Kirche des Themas Prostitution annehmen.
       
       Später, in den Räumen von IN VIA, wird die Diskussion hitzig. Eine
       Journalistin verlässt ihre berichtende Rolle und beharrt auf der
       Notwendigkeit, nicht nur Freier zu illegalisieren, wie dies in Schweden
       geschehen sei, sondern Prostitution als solche zu verbieten. Diese sei nie
       wirklich selbstbestimmt und Ergebnis eines frauenfeindlichen Systems.
       
       Ehret und ihre Kollegin Margarete Muresan aber verwehren sich aus der
       Praxis heraus einer solchen Pauschallösung. „Hinter der Verbotsforderung
       stehen oft moralische Vorbehalte. Aber die moralische Attitüde hilft nicht,
       wenn man Hunger hat“, meint Ehret. Verbote machten die Prostitution zwar
       weniger sichtbar, verhinderten sie aber nicht.
       
       Die Sozialarbeiterinnen berichten, dass Freiwilligkeit oft nicht von außen
       zu entscheiden sei, da insbesondere sehr junge Frauen auf „schnelles Geld“
       und auf das Jasagen konditioniert seien. In den Fällen, in denen Frauen
       über „Loverboys“ in die Zwangsprostitution gelangten, käme oft noch eine
       emotionale Bindung an den Zuhälter dazu.
       
       Muresan erklärt: „Man darf nicht pauschalisieren. Wir haben es mit Frauen
       zu tun, die für einen Zehner was machen, aber auch mit welchen, die unter
       500 Euro keinen Mann anfassen.“
       
       IN VIA biete zum einen medizinische Versorgung an, berichten Muresan und
       Ehret. Andererseits gelte es, die Sexarbeiterinnen über ihre Rechte,
       insbesondere über das seit 2016 geltenden Prostituiertenschutzgesetz,
       aufzuklären. Auch bei Versicherungsfragen, der Wohnungssuche und
       emotionalen Fragen würde Unterstützung in verschiedenen Sprachen angeboten.
       Doch auch wenn sich die Chance auf einen Ausstieg biete, bleibt für die
       Sozialarbeiterinnen die Frage: „Will diese Frau das, oder wollen nur wir
       das?“
       
       Grundsätzlich müsse man daran arbeiten, dass wirtschaftliche Diskrepanzen –
       in Europa, aber auch global – abgebaut werden, so Ehret. Durch diese
       gelangten speziell Migrantinnen schnell in die Abhängigkeit von der
       Prostitution.
       
       Und wie erkennt IN VIA nun die Fälle von Zwangsprostitution? „Dabei sind
       wir auf gute polizeiliche Ermittlungen angewiesen“, meint Barbara Ehret.
       Die Dunkelziffer sei aber nach wie vor hoch, den offiziellen Zahlen traue
       sie nicht.
       
       16 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Hunglinger
       
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