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       # taz.de -- Britisches Unterhaus tagt wieder: Zurück zum Schimpfduell
       
       > „Dieses Parlament ist eine Schande!“, ruft der Generalstaatsanwalt. Nach
       > der Niederlage der Regierung bleiben die Gemüter erhitzt.
       
   IMG Bild: Arbeitsplatz der Abgeordneten des Unterhauses: Das House of Parliament in London
       
       Sie brüllten und krakeelten, als seien sie nie weg gewesen, und rein
       rechtlich gesehen, waren sie es auch nie. Das britische Unterhaus ist am
       Mittwoch zum ersten Mal seit der von der Regierung verfügten Beendigung
       seiner letzten Sitzungsperiode in der Nacht zum 10. September wieder
       zusammengetreten – Folge des [1][Urteils] des Obersten Gerichts vom
       Dienstag, wonach diese Vertagung rechtswidrig war und formell nie
       stattgefunden hat. „Willkommen zurück an unserem Arbeitsplatz“, begrüßte
       Parlamentspräsident John Bercow die Delegierten und wies als erstes an, die
       Sitzungsbeendigung aus dem offiziellen Parlamentsprotokoll zu streichen.
       
       In Erwartung von Premierminister Boris Johnson, der vorzeitig in der Nacht
       zu Mittwoch aus New York nach London zurückgeflogen war und eine
       Regierungserklärung im Unterhaus ankündigte, mussten die Abgeordneten mit
       Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox vorliebnehmen, und sie wurden nicht
       enttäuscht. Zur Diskussion stand eine Dringlichkeitsfrage, was er der
       Regierung geraten habe, um die höchstrichterlich gekippte
       Parlamentssuspendierung zu begründen. Das konnte der Generalstaatsanwalt
       nicht beantworten, da zur Vertraulichkeit verpflichtet.
       
       Daraus entwickelte sich eine aufgeregte Generaldebatte. Cox, ein begnadeter
       Redner mit einem über jeden noch so lauten Zwischenruf erhabenen fülligen
       Bariton, steigerte sich dabei in eine gespielte Rage, die unter den
       Angesprochenen echte Rage hervorrief.
       
       „Dieses Parlament ist ein totes Parlament!“, brüllte Cox nach einer guten
       halben Stunde in den tobenden Saal. „Es sollte nicht länger tagen! Es hat
       kein moralisches Recht, auf diesen grünen Bänken zu sitzen!“ Die
       Abgeordneten sperrten sich nämlich sowohl gegen Neuwahlen als auch gegen
       einen Vollzug des Brexits: „Dieses Parlament ist eine Schande!“ Ein
       Labour-Gegenredner konnte sich kaum halten vor Wut, als er darauf hinwies,
       das Volk habe ihn hergeschickt – Cox erwiderte, dann solle er doch das Volk
       fragen, ob das so bleiben solle.
       
       ## Diskussion dreht sich nun um langfristige Folgen des Urteils
       
       Das Urteil des Obersten Gerichts werde von der Regierung akzeptiert,
       erklärte Cox, auch wenn er anderer Meinung sei. In der Sache führte der
       Starjurist Cox aus, die Obersten Richter hätten das Recht
       „weiterentwickelt“: Die juristische Kontrolle des Handelns der Regierung
       gegenüber dem Parlament sei bisher lediglich eine „politische Konvention“
       gewesen, aber nun sei sie zu einem „Rechtsprinzip“ erklärt worden, dessen
       „Vorhandensein“ das Gericht „festgestellt“ habe.
       
       Am Ende wies Cox die Abgeordneten immer wieder auf die aus seiner Sicht
       zentrale politische Konsequenz des Urteils hin: Wenn die Regierung dafür
       verurteilt werde, dass sie das Parlament an der Wahrnehmung seiner
       verfassungsmäßigen Aufgabe hindere, müsse im Gegenzug das Parlament „seine
       Verantwortung wahrnehmen“. Aber das tue es nicht: Es hindere die Regierung
       am Regieren, blockiere aber auch die von der Regierung gewünschten
       Neuwahlen. Das, so brüllte Cox, sei „unmoralisch, unparlamentarisch und
       undemokratisch“.
       
       Welche langfristigen Folgen das Gerichtsurteil hat, darüber wird derweil
       heftig diskutiert. Viele Kommentatoren befürchten eine Politisierung der
       britischen Justiz nach US-Muster und rechnen damit, dass über kurz oder
       lang Richterposten nach politischen Kriterien besetzt werden.
       
       Viele Stimmen, von ehemaligen obersten Richtern bis hin zur grünen
       Unterhausabgeordneten Caroline Lucas, sehen eine grundlegende
       Verfassungsreform im Gange – auch der Generalstaatsanwalt begrüßte diese
       Aussicht im Parlament. Er verwies darauf, dass das Ausscheiden
       Großbritanniens aus EU-Recht ohnehin ein zu füllendes „Loch“ schaffe.
       
       ## Was ist nun mit dem Jahresparteitag der Konservativen?
       
       Kurzfristig schafft die Rückkehr des Parlaments politische Probleme, die
       nicht von Gerichten gelöst werden können. So findet eigentlich ab dem
       Wochenende bis zum Mittwoch, den 2. Oktober der Jahresparteitag der
       regierenden Konservativen in Manchester statt, mit Boris Johnsons
       Schlussrede am Mittwoch. Aber die fällt nun zeitlich zusammen mit seiner
       nächsten parlamentarischen Fragestunde in London. Usus ist eigentlich eine
       Sitzungsunterbrechung des Parlaments für die Dauer der Jahresparteitage.
       Aber die müssten die Abgeordneten beschließen. Sie dürften dazu wenig
       Neigung verspüren.
       
       25 Sep 2019
       
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