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       # taz.de -- Spielfilm „Midsommar“ im Kino: Die Welt beginnt zu schwanken
       
       > Der US-Regisseur Ari Aster testet in „Midsommar“ Konventionen des
       > Horrorgenres. In Schweden wird er wegen „kultureller Aneignung“
       > attackiert.
       
   IMG Bild: Willkommen in Helsingland: Surreales Heldentum in „Midsommar“
       
       „Midsommar“: ein überbelichteter Horrorfilm über eine schwedische Sekte,
       ein Film über Atemnot und tiefe Luftzüge. Dani, die junge Frau im Zentrum
       der Geschichte, ringt immer wieder nach Sauerstoff, weil sie mit
       Panikattacken zu kämpfen hat. Dann sucht sie das Weite, stürmt ins Freie
       oder in kleine Räume, um für sich zu sein. Panisch verändert sich ihr Blick
       und der Sinn für Zeit und Raum. Nur in den extremsten Momenten – es gibt
       hier einige – wirkt sie fast unheimlich ruhig.
       
       US-Nachwuchsregisseur Ari Aster („Hereditary“) hat nun seinen zweiten
       Langfilm fertiggestellt und zeigt damit erneut ein großes Talent für das
       Austesten filmischer Möglichkeiten: Alles scheint hier in zweieinhalb
       Stunden möglich und beinahe alles realistisch. Es ist ein Film über Europa,
       der in Schweden wegen seiner kulturellen Aneignung attackiert wurde.
       
       Dabei hat Aster ein Spiel mit kulturellen Vormachtsfantasien in seine
       Erzählung deutlich eingeschrieben: Dani reist mit ihrem Freund Christian
       und dessen Clique in die Region Hälsingland, aus der einer seiner Kumpel
       stammt. Pelle lädt alle ein, gemeinsam mit seiner ehemaligen
       „Hårga“-Kommune Sommersonnenwende zu feiern. Als die Gruppe eintrifft,
       setzt allgemeines Staunen über alte Bräuche, sonderbare Wandbilder,
       Kleidungsstile und das Gruppengefühl der Kommune ein.
       
       Die jungen Leute zeigen, wo sie herkommen: Mark will gleich sämtliche
       Dörflerinnen daten und pinkelt auf den Ahnenbaum. „Bestimmt wird es albern
       wirken, aber es ist wie Theater“, meint Pelle kurz vor der Abreise. Das
       scheint auch auf die angereiste Gruppe insgesamt zuzutreffen, deren
       überdeutliche Andersartigkeit permanent Fragen aufwirft.
       
       ## Unscheinbarer Computertrick
       
       Josh ist besonders neugierig, er will forschen. Denn die Rituale der
       Gemeinschaft sind bisher nirgendwo dokumentiert. Der Afroamerikaner stürzt
       sich in eine Situation, die sich weißer nicht anfühlen könnte. Die Sonne
       scheint fast rund um die Uhr, alle tragen grelle Roben. Eine der
       einprägsamsten Szenen spielt auf Kalksteinfelsen, beinahe verschwimmen die
       Gewänder und blonden Haare vieler Sektenmitglieder mit der Umgebung. Josh,
       der Amerikaner, ergründet sein Fantasma der europäischen Vergangenheit und
       wird dabei zum obsessiven Anthropologen, der keine Grenzen und Schutzräume
       mehr respektiert. Er wendet seinen Blick selbst dann nicht ab, wenn
       Menschen in Gefahr geraten – ihn selbst mit eingeschlossen.
       
       Ari Aster interessierte sich bereits in seinem im Horrorgenre angesiedelten
       Debütfilm für eine naturalistische Szenerie, deren Regeln jedoch völlig
       unberechenbar bleiben. Wenn er in „Hereditary“ von Utah erzählt, vom Haus
       und der Seele einer kleinen Familie, zeigt er gleich zu Beginn ein
       Puppenhaus, eine originalgetreue Imitation der Welt. Die Kamera zoomt in
       eines der Zimmer, das unmittelbar zum Spielort des Films wird. Der Raum
       wächst leinwandgroß, die Türe öffnet sich, eine Schauspielerin tritt
       herein. Ein Computertrick, so unscheinbar und doch gewaltig wie die grellen
       Naturräume in „Midsommar“.
       
       Nur in einigen Szenen übertreten beide Filme die Grenze zum Fantastischen,
       zum Übernatürlichen und zur Halluzination. In „Hereditary“ gab es
       Traummomente, bei „Midsommar“ greifen alle gerne mal zu Drogen und die Welt
       beginnt unmerklich zu schwanken.
       
       Der neue Film hat so wenig mit dem realen Schweden zu tun, wie „Hereditary“
       mit Utah – aber viel mit Realismus als Voraussetzung von psychologischer
       Anspannung. Und nicht weniger mit den Ritualräumen der Filmgeschichte. Sehr
       nahe liegen etwa die Vorgänge des britischen Films „The Wicker Man“ (1973),
       eines der „kultigsten“ Sektenfilme überhaupt. Seine Handlung: Ein
       bibeltreuer, etwas steifer Polizist ermittelt auf einer schottischen Insel
       und wird vom wahnwitzigen Christopher Lee als Zeremonienmeister in Drag
       immer weiter manipuliert. Der hat seine Gemeinde fest im Griff und treibt
       die Menschen jedes Jahr zu Opferritualen, um die Ernte zu steigern.
       
       ## Höhere Gewalt
       
       Als es dem Mann des Gesetzes an den Kragen geht (er soll verbrannt werden),
       schreit er zunehmend fanatisch christliche Texte und verflucht die
       Einwohner des kleinen Orts nicht für den Mord, sondern mehr noch für ihre
       Auflehnung gegen Gott. Weil das weltliche Gesetz und seine Fähigkeit als
       Vollstrecker versagt, sucht er nach einer höheren Gewalt und zeigt sich
       schlussendlich kaum weniger verblendet als seine Peiniger. Die entrückte
       Kommune wird zur Kontrastfolie eines gesellschaftlich anerkannten
       christlichen Fanatismus.
       
       Zuvor: unzählige Zeichenspiele, die Skizze eines unberechenbaren Ortes und
       der Menschen, die ihn bewohnen. Und Musik als fester Teil einer filmischen
       Welt. So einiges von „The Wicker Man“ kommt auch in „Midsommar“ vor. Die
       Kamera führt manchmal ein Eigenleben und bewegt sich ungezügelt. Einmal
       bleibt sie an einem Ast hängen, als skizziere das Objektiv die Subjektive
       eines Menschen. Ari Asters Kameramann Pawel Pogorzelski lässt einen solchen
       Verdacht praktisch nie entstehen.
       
       Der Blick von „Midsommar“ ist ein schwebender, der sich beizeiten an die
       Decke schwingt, Räume überwindet, die gesamte Welt auf den Kopf zu stellen
       vermag. Eine Autofahrt wird zum schwerelosen Trip, eine Straße windet sich
       an der Oberkante der Leinwand aus der Tiefe der Landschaft hin zum
       Publikum.
       
       ## Menschen als Ornamente
       
       Die Menschen der Hårga-Gemeinschaft werden, aus dem richtigen Winkel
       angesehen, selbst zu Ornamenten, etwa wenn sie an großen Tischen Platz
       nehmen und sich wie von Geisterhand geleitet unangenehm synchron bewegen.
       Einmal erzählen Stofffetzen eine Bildergeschichte. Der Blick, der niemandem
       zu gehorchen scheint, fährt sie seelenruhig ab. Wenn nichts Zentrales zu
       erzählen ist, fängt die Kamera rätselhafte Randnotizen ein. Weil
       „Midsommar“ in seiner Montage und in den entfesselten Perspektiven
       unberechenbar bleibt, werden Grundspannung und Desorientierung zunehmend
       unerträglich. Und das, obwohl sich über weite Strecken praktisch kein
       Ortswechsel vollzieht.
       
       Das Geschehen entfaltet sich nach einem heftigen Prolog in dem schwedischen
       Dorf, und bald wird klar, wie anfängliche Szenen die späteren Ereignisse
       kommentieren und vorwegnehmen. Ein Systemfilm, als wäre jeder Moment
       gleichermaßen Vorahnung und Credo. Die Gewalt kommt früh und jede
       Konfrontation hallt als Drohung lange nach. Gegen die Beklemmung von
       „Midsommar“ hilft es, gleichmäßig zu atmen. Die Sektenmitglieder haben eine
       eigene Technik, um im Gleichgewicht zu bleiben: In bedeutungsvollen
       Momenten ist es unter ihnen angesagt, die Luft betont herauszupressen und
       umgehend wieder einzuatmen. Schnappatmung wird zur Kunstform.
       
       Auch Dani findet ganz neue Wege zu schnaufen: in der Kommune, gemeinsam mit
       einer neuen Art von Familie nach dem Verlust ihrer eigenen. Dann hat sie
       schon beinahe vergessen, wo sie herkommt und versteht, dass andere Regeln
       gelten als in der US-Gesellschaft. Die Hårga-Kommune ist radikal sozial.
       Wenn hier ein Mensch zusammenbricht – und das ist vorprogrammiert –, dann
       betrifft das ausnahmslos alle. Wenn zwei einst verliebte Menschen sich
       trennen und der Schmerz darüber nicht nur den Atem raubt, sondern
       regelrecht lähmt. Wenn die Gefühle einbrennen, sich neue Wege öffnen und
       alte verschließen. Letztlich ist „Midsommar“ ein Film über eine
       gescheiterte Liebe, eine unschöne Trennung und die heilsame Distanz zum
       Vertrauten.
       
       26 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dennis Vetter
       
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