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       # taz.de -- Feministin über Brasilien: „Gewalt wird unsichtbar gemacht“
       
       > Djamila Ribeiro ist eine wichtige Stimmen des schwarzen Feminismus. Sie
       > kritisiert nicht nur Präsident Bolsonaro, sondern auch Brasiliens Linke.
       
   IMG Bild: Djamila Ribeiro: „Schwarzer Feminismus schließt nicht aus, er schließt nur neue Stimmen mit ein“
       
       taz: Frau Ribeiro, seit Januar regiert in Brasilien mit Jair Bolsonaro ein
       rechtsextremer Präsident, viele waren von seinem Wahlsieg überrascht. Sie
       auch? 
       
       Djamila Ribeiro: Mich hat überrascht, welche Zustimmung er von Beginn an
       als Kandidat erfahren hat. Als er schließlich gewann, hatte ich schon damit
       gerechnet. Bolsonaro hat seinen Wahlkampf emotional geführt, er hat ein
       politisches Klima für sich genutzt. Viele haben ihn gewählt, weil sie ihre
       Stimmen auf keinen Fall der ehemals regierenden Arbeiterpartei geben
       wollten. Es ist traurig, dass sie einen menschenfeindlichen Präsidenten
       unterstützen.
       
       Im Mai erklärte Bolsonaro, Rassismus sei in Brasilien eine Seltenheit. In
       der brasilianischen Gesellschaft hält sich hartnäckig der sogenannte mito
       da democracia racial. Was hat es damit auf sich? 
       
       Dieser Mythos der „Rassendemokratie“ behauptet, in Brasilien existiere kein
       Rassismus. Weil es im Kontrast zu Ländern wie den USA oder Südafrika weder
       eine offizielle Segregationspolitik noch ein Apartheidregime gab, konnte
       man ein romantisiertes Bild des Zusammenlebens von Menschen aller
       Hautfarben entwickeln.
       
       Sie schreiben, in Brasilien Schwarz zu sein, fühle sich an, als wären Sie
       im eigenen Land eine Ausländerin. 
       
       Mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ist Schwarz. Schaltet
       man aber den Fernseher an, sind fast alle weiß. Alle 23 Minuten wird in
       Brasilien ein junger Schwarzer Mensch ermordet, die Schwarze Bevölkerung
       sitzt überdurchschnittlich oft in Gefängnissen. Brasilien ist ein extrem
       rassistisches Land, es wurde auf dem Blut der Schwarzen und Indigenen
       aufgebaut. Aber diese Gewalt wird unsichtbar gemacht. Und etwas, von dem
       die Leute nicht glauben, dass es existiert, lässt sich nur schwer
       bekämpfen.
       
       Welche Rolle spielt bei alldem Europa? 
       
       Eine wichtige, immerhin waren europäische Länder Kolonialmächte. Brasilien
       war eine portugiesische Kolonie, aber Portugal hat für seine Taten nie
       historische Verantwortung übernommen. Ich vermisse eine ernsthafte
       Auseinandersetzung der europäischen Länder mit ihrer eigenen Geschichte.
       
       Inwiefern? 
       
       Man echauffiert sich in Europa über Migration, dabei hat man die Länder der
       Menschen, die heute kommen, zuvor ausgebeutet. Und man tut es noch immer.
       Europa behandelt Brasilien weiterhin, als wären wir eine Kolonie. Man zeigt
       sich besorgt darüber, was in Brasilien passiert, profitiert aber von der
       Privatisierung von Staatsunternehmen. Man beklagt, was im Amazonas-Gebiet
       vorgeht, und beutet gleichzeitig unsere natürlichen Ressourcen aus. Wir
       erleben einen Prozess der Neokolonialisierung.
       
       Als im August der Brand des Amazonaswaldes in Europa Aufmerksamkeit
       erregte, boten die G7-Staaten Brasilien finanzielle Hilfe an. Bolsonaro
       lehnte ab, auch er sprach von Neokolonialismus. 
       
       Er weiß vermutlich nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Er verteidigt
       einen Diskurs der nationalen Souveränität, während seine Regierung sich für
       das Gegenteil einsetzt. Als die gesamte Welt ihre Augen auf Brasilien
       richtete, hat er sich diesen Diskurs angeeignet, um sich gegen Kritik zu
       verteidigen.
       
       In ihrem 2017 erschienen Buch „O que é lugar de fala“ entwickeln Sie den
       Begriff lugar de fala, also Position, von der aus jemand spricht. Worum
       geht es da? 
       
       Es geht mir darum, sichtbar zu machen, dass wir alle aus historisch
       gewachsenen gesellschaftlichen Positionen sprechen. Traditionell galt der
       weiße Mann als universell, er erklärte die Welt. Aber Narrative, die sich
       universell geben, sind in Wirklichkeit sehr einseitig. Sie sind von einem
       spezifischen, meist privilegierten Blick geprägt. Wie alle wird auch der
       weiße Mann von Kultur, Politik und Geschichte beeinflusst, er spricht zu
       einer bestimmten Zeit von einem bestimmten Ort aus. Dass er sprechen kann
       und gehört wird, hängt damit zusammen, dass er ein weißer Mann ist.
       Schwarze sprechen hingegen von einer Randposition, ihre Stimmen werden
       nicht gehört. Indem wir den lugar de fala thematisieren, schaffen wir einen
       demokratischen Raum, zu dem alle Zugang haben. Das geht nur, wenn wir
       erkennen, dass wir aus verschiedenen Positionen sprechen.
       
       Wieso fällt es vielen so schwer, das zu verstehen? 
       
       Einige weiße Leute irritiert es, als weiß markiert zu werden. Sie fühlen
       sich ausgeschlossen. Dabei schließt Schwarzer Feminismus nicht aus, er
       schließt nur neue Stimmen mit ein.
       
       Von wegen Position des Sprechens: Haben Sie das Gefühl, als Schwarze
       Philosophin auf die Themen Rassismus und Feminismus reduziert zu werden? 
       
       Ich habe bewusst beschlossen, mich mit Feminismus und Rassismus
       auseinanderzusetzen. Als Schwarze Frau ist das für mich auch eine
       politische Frage, denn das Denken Schwarzer Frauen wurde historisch
       übergangen. Ich sehe mich in der Verantwortung, es sichtbar zu machen. Aber
       klar, es ist ermüdend in eine Position gedrängt zu werden, in der man von
       mir verlangt, dass ich mich zu jedem rassistischen Vorfall äußere. Die
       Leute vergessen, dass ich auch ein Mensch bin: Ich bin außerdem auch
       Mutter, Sportfan, Weinliebhaberin und Leserin.
       
       Ihre Bücher wurden ins Französische übersetzt, bald erscheinen sie in
       Spanien und Italien. Ist es nicht ironisch, dass Werke, die eurozentrisches
       Denken kritisieren, nun ausgerechnet in Europa erfolgreich sind? 
       
       Ich weiß natürlich, dass Europa nicht die Welt ist. Aber diese umgekehrte
       Bewegung ist ermächtigend. Eine auf Portugiesisch schreibende Schwarze Frau
       aus dem globalen Süden wird übersetzt und erlangt in Europa Sichtbarkeit.
       Es ist lustig: Meine Professoren im Philosophiestudium haben Frankreich und
       französische Denker immer bewundert, ich nicht. Und jetzt werde
       ausgerechnet ich ins Französische übersetzt. Mittlerweile bewundern sie
       mich.
       
       Sie bewegen sich zwischen zwei Welten: Sie lehren an Universitäten, Ihre
       Werke sind akademisch. Gleichzeitig nennt man Sie filósofa pop, also
       Pop-Philosophin. Wie gelingt es Ihnen, beides zu vereinen? 
       
       Das ist eine historische Befürchtung Schwarzer Feministinnen. Einerseits
       wird einfache Sprache belächelt. Aber Sprache ist Macht, und wir müssen auf
       eine Art sprechen, die Menschen verstehen können und die sie ermächtigt,
       ihre Position zu reflektieren. Sonst reproduzieren wir Ungleichheiten.
       Betrete ich heute akademische Räume, habe ich stets meine Mutter im
       Hinterkopf, die als Reinigungskraft arbeitete. Meine historische
       Verantwortung gilt Menschen wie ihr. Und der Sozialpolitik des Präsidenten
       Lula da Silva. Trotz berechtigter Kritik hat seine Arbeiterpartei Räume
       demokratisiert. Ich habe auf einem Campus studiert, den es ohne seine
       Regierung nicht gegeben hätte. Ich bin Kind dieser Regierung.
       
       Trotzdem kritisierten Sie im April in einen offenen Brief an den
       inhaftierten Ex-Präsidenten Lula, die Linke müsse ihre Position besser
       reflektieren. 
       
       Die brasilianische Linke beschäftigt sich mit der Klassenfrage, aber das
       reicht nicht. In Brasilien ist die Schwarze Bevölkerung nicht einfach nur
       arm. Sie ist arm, weil sie Schwarz ist. Man kann in einem Land wie
       Brasilien nichts diskutieren, ohne das zu berücksichtigen. Spricht man über
       Wirtschaft, muss man bedenken, dass Schwarze Frauen die Last der
       Steuerpolitik am stärksten spüren. Spricht man über Gesundheit, muss man
       bedenken, dass Schwarze Frauen am häufigsten Opfer von Müttersterblichkeit
       sind. Immer wieder sehe ich progressive Bewegungen, die aus weißen Männern
       bestehen. Ich frage mich, wie ernst sie es meinen, wenn sie keine Schwarzen
       oder Indigene zu Wort kommen lassen.
       
       29 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simon Sales Prado
       
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