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       # taz.de -- Ambientsound von Perila: Kribbeln mit Außenbordmotor
       
       > Mit den autosensorischen Effekten von ASMR und Latenight-Talkradio
       > gespielt: Die russische Produzentin Perila und ihr Album „Irer Dent“.
       
   IMG Bild: Expertin für verkarstetete Gefühle: Perila alias Alexandra Zakharenko
       
       ASMR wird die Erfahrung genannt, die das Ansehen von semidokumentarischen
       YouTube-Filmen hervorruft, in denen sich ProtagonistInnen ausgiebig die
       Haare kämmen oder genüsslich [1][Oktopus-Tentakel] zerkauen.
       Hunderttausende schauen diesen Settings zu und entspannen sich. Die Tonspur
       ist abwechslungsreicher als das Standbild, das es zu sehen gibt. Es fehlt
       nie der Hinweis, man solle sich die Filme per Kopfhörer reinziehen.
       Angeblich lösen sie ein Kribbeln aus, das helfen soll, Schlafstörungen zu
       lindern.
       
       Die russische Produzentin Perila (Alexandra Zakharenko) spielt in ihrem
       Sound mit dem Massenphänomen ASMR, ihre Ambient-Klänge überschreiten
       mitunter die Grenze zum Unheimlichen und vermitteln trotzdem Wohlgefühl.
       Ihren Sound serviert sie wie auf einem Silbertablett: Das Wummern eines
       stehenden Motors, das verfremdete Geräusch eines Paddels, das ins Wasser
       eintaucht und das metallische Schreien einer Kreissäge, das Bimmeln eines
       Echolots, man hört in ihrer Produktionsweise alle Details.
       
       Mitunter verfremdet die 30-Jährige ihre Fieldrecordings, aber nie so, dass
       die anderen Klangelemente – anschwellende Bässe, Sinustöne und Drones –
       verschwinden. Wie bei einem Hörspiel schaltet Perila einzelne [2][Stimmen]
       dazu, die räumlich so nahe inszeniert werden, dass man glaubt, ein
       Poltergeist lese aus der aktuellen Scientific-American-Ausgabe einen
       Forschungsbericht vor.
       
       ## Synästhetischer Ansatz
       
       Perilas synästhetischer Ansatz erinnert an Experimente der frühen
       sowjetischen Avantgarde: Bereits Künstler wie Sergei Eisenstein und
       Alexander Skrjabin forschten vor 100 Jahren nach Konzepten, um Musik im
       Raum zu visualisieren. In der entbehrungsreichen Zeit nach 1917 träumten
       sie von einem Schlaraffenland mit einer perfekten Menschheit, universeller
       Sprache und Maschinen, die einem alles abnehmen: Das Radio war dafür ein
       wichtiges Versuchsfeld und der Buchstabe Z symbolisierte als Blitzgedanke
       jenen Zickzackkurs der elektrisch aufgeladene Atmosphäre, bevor
       künstlerische Geniestreiche der zunehmenden Bürokratie und der Paranoia des
       Stalinismus zum Opfer fielen.
       
       Bekannt wurde Alexandra Zakharenko, die aus St. Petersburg kommt,
       ursprünglich als DJ des Berliner Internetradios BCR. Inzwischen hat sie
       selbst den Onlinesender [3][Radio Sygma] gestartet, der in vorbildlicher
       Weise die elektronische Avantgarde aus Osteuropa mit der ganzen Welt
       verbindet. Als Produzentin verwendet Zakharenko verschiedene Pseudonyme,
       neben Perila nennt sie sich auch [4][Aseptic Stir]. „Irer Dent“ ist ihr
       Debütalbum als Perila und wurde beim britischen Label Sferic
       veröffentlicht. Zuvor hat sie bereits tolle Mixe gemacht, die ihr Talent
       für eigenwillige Toncollagen andeuteten.
       
       In einem Interview hat Zakharenko erklärt, beim Musikmachen würde sie
       „Realität scannen und Information, die um mich herum zirkuliert,
       prozessieren“. Das erklärt, warum ihre Musik so die Aufmerksamkeit der
       HörerInnen absorbiert. Aus autosensorischen Effekten und somnambulem
       Gelaber kreiert sie sinnliche Ambiance, die sie mit der
       Kammerspiel-Anordnung von Hörspielen verbindet.
       
       ## Geräusche der Arbeitswelt
       
       Obwohl Geräusche der industrialisierten Arbeitswelt zum Alltag gehören,
       nehmen sie viele Menschen gar nicht mehr wahr. Durch die Repetition der
       Geräusche und die dreidimensionale Anordnung der Klangelemente erzeugt
       Perila ein Panorama, das die serielle Produktion des in alle Lebensbereiche
       eindringenden Kapitalismus im digitalen Zeitalter imitiert. Und dennoch
       reklamiert die Erzählebene gleichzeitig auch den Rest einer Menschlichkeit:
       „My mouth … sings the refrain from the 1992 Mr. Fingers Track ‚Closer‘ “,
       erklärt Nat Marcus, der in Perilas Track [5][„Nat’s Poem“] die
       Sprecherrolle ausfüllt.
       
       Sein zwölfminütiger Monolog handelt von der Einsamkeit auf dem Dancefloor
       und dem Wunsch nach mehr Nähe zu den Umstehenden. Und dann intoniert Marcus
       den Refrain des Housetracks von „Closer“, wissend, dass er die Nähe, die
       das Original suggeriert, mit seiner Stimme nicht annähernd hinbekommt. Er
       wünscht sich „intimacy unutterable, one step beyond being“. Dies erfüllt
       Perilas subsonische Klangkulisse.
       
       Perila mischt auch bei der Online-Community W.E.T. (Weird Erotic Tension)
       mit, bei der UserInnen einander erotische Fantasien schildern. „Sweat“, der
       längste Track auf „Irer Dent“, geht auf einen Podcast zurück, den die
       norwegische Künstlerin I[6][nger Wold Lund] dort eingesprochen hat. Sie
       wird explizit, klingt dabei aber sachlich, nie schmierig: Wie sie sich
       selbst befriedigt, was der Schweiß in ihrer Armbeuge macht, dass ihre
       Klassenlehrerin einst eine Hand auf ihren Kopf legte und sagte, die Jugend
       habe es im Leben so viel besser als sie selbst.
       
       Perilas musikalische Untermalung zur schwerelosen Stimme von Wold Lund
       klingt wie ein Außenbordmotor von einem Boot, das im Sumpf unterwegs ist.
       Libido, Leben, Frust, Erinnerungen, wie daran festhalten, wie diese
       abstreifen. Die Ambivalenz der Gefühlswelt zu vermitteln ist die große
       Kunst von Perila.
       
       27 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=wsffEFutYQw
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=ttZ7GF9PVmA&list=PLyhZFD1EnipW5hIAOk_k5FbJ8dJqySpEr&index=1
   DIR [3] https://radio.syg.ma/
   DIR [4] https://soundcloud.com/as_care
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=ttZ7GF9PVmA&list=PLyhZFD1EnipW5hIAOk_k5FbJ8dJqySpEr&index=1
   DIR [6] https://www.ingerwoldlund.no/Work
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
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