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       # taz.de -- Verfassungsgefüge in Großbritannien: Die Übermacht des Parlaments
       
       > Großbritanniens uraltes politisches Machtgefüge beruht auf dem Grundsatz,
       > dass das Parlament über dem Gesetz steht. Das ist nicht länger haltbar.
       
   IMG Bild: Sitz des britischen Parlament: der Westminster-Palast
       
       Die politische Ordnung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und
       Nordirland ist in Umwälzung. Die sichtbare Dimension dessen ist das
       tägliche Spektakel im Parlamentssitz an der Themse: die erbitterten
       Wortgefechte im Unterhaus, die Ordnungsrufe des Sprechers John Bercow,
       zuletzt der Machtkampf mit Premierminister Boris Johnson. Die unsichtbare,
       aber zunehmend wahrnehmbare Dimension ist das Knirschen im Gebälk des
       Machtgefüges der Institutionen, das jetzt mit dem [1][Urteil des britischen
       Obersten Gerichts gegen Boris Johnsons Parlamentssuspendierung] nach einem
       drohenden Einsturz klingt.
       
       Die oberflächliche Lesart sieht in diesen Geschehnissen eine
       Selbstbehauptung des Parlaments. Sprecher Bercow ist demnach der mutige
       Vorkämpfer der parlamentarischen Demokratie, der die Legislative gegenüber
       der Exekutive verteidigt. Das Oberste Gericht ist ihm zur Seite gesprungen,
       hat den Premierminister in die Schranken gewiesen und damit das Abgleiten
       des Landes in eine Johnson-Diktatur gestoppt.
       
       Das ist die Lesart, die in Europa fast ausschließlich vorherrscht.
       Überzeugend ist sie aber nur, wenn man die historisch gewachsene
       Verfassungsordnung Großbritanniens und ihre Besonderheiten ausblendet.
       
       Ein Grundsatz dieser ungeschriebenen Verfassung, den jetzt auch das Oberste
       Gericht hervorgehoben hat, ist die Souveränität des Parlaments – also der
       Grundsatz, dass das Parlament allein die Quelle des Rechts ist und alle
       anderen, Regierung eingeschlossen, sich dem zu beugen haben. Der Wunsch
       nach Wiedererlangung dieser Souveränität ist der zentrale juristische Grund
       für die Forderung nach dem EU-Austritt gewesen, denn die Mitgliedschaft
       stellt EU-Recht über nationales Recht und ist damit nur dann nach
       britischen Verständnis verfassungsgemäß, wenn das britische Parlament frei
       ist, seine eigene Unterordnung zurückzunehmen, was innerhalb der EU nicht
       möglich ist.
       
       Das Oberste Gericht hat jetzt festgestellt, dass zur Souveränität des
       Parlaments nicht nur die Gesetzgebungskompetenz gehört, sondern auch die
       Macht und die Pflicht, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Weil die
       übermäßig lange Suspendierung seiner Sitzungsperiode durch die Regierung
       dies einschränkte, war sie rechtswidrig.
       
       ## Alleinige Quelle des Rechts
       
       So weit, so einfach – aber spätestens ab dieser Stelle steigt ein
       spezifisch englischer dichter Nebel auf. Die Doktrin der Souveränität des
       Parlaments besagt nämlich nicht nur, dass das Parlament die alleinige
       Quelle des Rechts ist. Sie besagt auch, dass niemand dieses Recht in Frage
       stellen darf: Was das Parlament macht, ist nicht justiziabel. Gesetze, die
       das Parlament verabschiedet, sind in Großbritannien ebenso wenig
       gerichtlich überprüfbar wie sämtliche Vorgänge im Parlament selbst: das
       Gesetzgebungsverfahren, die Geschäftsordnung, die inneren Abläufe. Das
       Oberste Gericht ist in Großbritannien kein Verfassungsgericht, das ein
       Gesetz für verfassungswidrig erklären kann. Justiziabel ist nur die
       Anwendung der Gesetze durch Regierung und Behörden. Eingeschränkt wird all
       das höchstens durch die Europäische Menschenrechtskonvention, die in
       britisches Recht übertragen worden ist und nichts mit der EU zu tun hat.
       
       Wer John Bercow als Hüter des Rechts zujubelt, sollte also nicht vergessen,
       dass der Mann über dem Gesetz steht. Er kann die Geschäftsordnung verändern
       oder neu auslegen, und niemand kann gegen ihn vorgehen. Eine Mehrheit im
       Parlament kann theoretisch beschließen, was sie will. Die Unangreifbarkeit
       des Parlaments und seiner inneren Funktionsweise ist auch schon, bevor der
       Brexit alles überlagerte, in die Kritik geraten: Sie macht nämlich auch die
       Ahndung sexueller Übergriffe oder Mobbing innerhalb des Hauses unmöglich,
       sofern die Parlamentarier sich sperren.
       
       Grundlage der Übermacht des Parlaments ist ein vormoderner
       Verfassungsgrundsatz: In Großbritannien ist nicht der Volk der Souverän,
       sondern der Monarch. Dieser ist Teil des Parlaments. Crown In Parliament
       heißt das in Großbritannien. Verabschiedete Gesetze werden erst dadurch
       Recht, dass die Monarchin sie in Kraft setzt. Die Queen eröffnet jede
       Sitzungsperiode des Parlaments mit der Queen’s Speech, der
       Regierungserklärung mit dem Regierungsprogramm, das von den Abgeordneten
       abzuarbeiten ist; und schließt sie wieder mit der prorogation, die jetzt
       für so viel Wirbel gesorgt hat. Namhafte Juristen kritisieren deshalb die
       Entscheidung des Obersten Gerichts, das die prorogation zu einem von außen
       oktroyierten und nur dadurch justiziablen Vorgang erklärt.
       
       Das alles ist weder mit einer modernen Gewaltenteilung noch mit einem
       Verfassungsstaat vereinbar. Das gilt vor allem dann, wenn einzelne Kräfte
       im Parlament ihre Macht ausnutzen. Sprecher Bercow entzieht regelmäßig der
       Regierung die Hoheit über die Tagesordnung und lässt Gesetze im
       Eilverfahren passieren. Gewählte Abgeordnete verlassen zu Dutzenden ihre
       Parteien und Fraktionen und verändern damit die Mehrheitsverhältnisse, ohne
       sich ihren Wählern zu stellen. Dem Wunsch nach einer vorzeitigen
       Parlamentsauflösung und Neuwahlen sperren sich die Abgeordneten, weil sie
       diese Allmacht auskosten wollen. Sie setzen auch ihre eigenen Beschlüsse
       zur Klärung der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens durch eine
       Volksabstimmung nicht um.
       
       Es sind diese Konflikte, die die britische Politik an den Rand des Abgrunds
       treiben. Eine Renovierung des Verfassungsgefüges ist dringend geboten. Sie
       kann nicht darin bestehen, das Parlament noch mächtiger zu machen. Vielmehr
       muss eine klare Gewaltenteilung alle Gewalten an verfassungsgemäßes Handeln
       binden.
       
       Möglich wird das wohl erst nach dem Brexit. Zugleich verhindert die
       aktuelle Krise den Vollzug des Brexit. Der Oktober dürfte für
       Großbritanniens politische Kultur ein Schicksalsmonat werden.
       
       3 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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