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       # taz.de -- Streitgespräch über Klimaaktivismus: „Es ist nicht das maximal Mögliche“
       
       > Für Clara Mayer von FFF kann es nicht schnell genug gehen mit dem
       > Klimaschutz. Der Abgeordnete Georg Kössler muss die Grenzen des Machbaren
       > ausloten.
       
   IMG Bild: „Gestikulieren Sie mal!“ Aktivistin und Grüner irgendwo zwischen Umarmung und Streit
       
       taz: Frau Mayer, Herr Kössler, wir führen seit Jahren die Debatte über
       Klimaschutz, aber gerade hat die Zahl der Fluggäste in Berlin schon wieder
       ein neues Rekordhoch erklommen. Führen wir nur eine Scheindebatte? 
       
       Clara Mayer: Es ist keine Scheindebatte. Ich denke, die Bevölkerung ist
       durchaus sehr verängstigt, aber die Politik macht Scheinaktionen. Seit
       Monaten werden wir von PolitikerInnen aus großen Teilen des politischen
       Spektrums blind gelobt, wie toll wir das machen mit den Freitagsdemos –
       aber erst vor wenigen Monaten hat der Bundesrat beschlossen, den Import von
       Frackinggas aus dem USA zu erleichtern. In solche Dinge werden dann
       Milliarden investiert, und uns AktivistInnen wird gesagt, es sei kein Geld
       da, um so richtig in Erneuerbare Energien zu investieren. Das ist eine
       Farce. Da haben wir das Gefühl, zu Tode umarmt zu werden, damit niemand
       sich ändern muss.
       
       Georg Kössler: Also die Grünen umarmen die Bewegung nicht, denn wer zu sehr
       umarmt wird, kann nicht kritisch sein. Und wir brauchen eine kritische
       Bewegung. Was die Flüge betrifft: Ich nehme wahr, dass sich die Debatte
       schon massiv verschoben hat, auch wenn das noch nicht auf allen politischen
       Ebenen angekommen ist. Bei meinen Eltern am Gartenzaun heißt es jetzt
       schon: „Wie oft darf ich denn jetzt noch fliegen?“ Also die Frage ist noch
       nicht „ob“, aber immerhin „wie oft“. Da eröffnet sich ein Raum, um
       politisch mehr durchzusetzen. Für uns heißt das aber auch, sich nach den
       ganzen Jahren des Förderns und der Anreize mal Ordnungspolitik zu trauen.
       Das müssen ja nicht gleich Verbote sein, auch wenn ein Verbot von
       Inlandsflügen mal debattiert werden könnte. Aber es könnte heißen, einen
       gerechten CO2-Preis zu setzen oder Inlandsflüge von Berlin aus vielleicht
       so zu bepreisen, dass die Menschen mit der Bahn fahren.
       
       Mayer: Das klingt ja alles sehr schön. Aber wie stehen Sie eigentlich dazu,
       dass Ihr Bundesprogramm nicht pariskonform ist? Es kann doch nicht sein,
       dass ausgerechnet das Programm einer Partei, die sich mit Klima- und
       Umweltschutz profiliert, den Kriterien der Pariser Klimakonferenz nicht
       entspricht. Das ist doch ein Skandal!
       
       Kössler: Mir ist es auch nicht genug. Wir haben einen Widerspruch zwischen
       dem, was die Wissenschaft sagt, und dem, was aktuell technologisch und
       politisch möglich ist, und diese Kluft wird leider immer noch größer.
       
       Mayer: Aber Paris ist doch nicht einfach so ein netter Wunschtraum. Das
       Klimaabkommen ist die oberste Grenze, unter der wir bleiben müssen, wenn
       wir klimatechnisch überhaupt noch was retten wollen.
       
       Kössler: Das ist auch uns völlig klar. Es gibt nur eben zwei Ansätze in der
       Politik: zu sagen, was nötig ist, auch wenn man noch nicht weiß, wie man da
       hinkommt, oder zu sagen, was möglich ist. Meine Partei war immer darauf
       bedacht, das zu fordern, was maximal möglich ist. Was auch Grüne wie mich
       frustriert, ist, dass das in puncto Klimaschutz nicht ausreicht.
       
       Mayer: Aber es stimmt ja gar nicht, dass das das maximal Mögliche ist. Wir
       werden von tausend WissenschaftlerInnen unterstützt, die sagen, dass wir
       noch radikalere Dinge fordern könnten!
       
       Kössler: Ich glaube, die Scientists for Future stimmen mit Fridays for
       Future genauso wie ich überein, dass die Ziele richtig sind, und dass
       Maßnahmen wie ein CO2-Preis von 180 Euro, wie ihn Fridays for Future
       fordert, auch relativ zeitnah umzusetzen sind. Das heißt nicht, dass man
       von heute auf morgen alles ohne Zielkonflikte erreichen kann. Man könnte
       die Kohlekraftwerke in Berlin sofort ausstellen – aber dann hätte man in
       gewissen Gegenden erst mal keine Heizung mehr. Man könnte die ganzen Autos
       stehen lassen, dann würden manche Leute aber auch nicht mehr zur Arbeit
       kommen. Da sind wir schon bei des Pudels Kern: Wir können das alles gerne
       debattieren, aber wir müssen auch klar sagen, was die Zielkonflikte sind.
       Da gibt es auch Verliererinnen und Verlierer. Fridays for Future muss das
       nicht benennen, aber ich fände es ehrlicher.
       
       Mayer: Dass es die Konflikte gibt, ist ja nicht zu bestreiten. Aber ich
       finde es sehr schade, dass es immer diese VerliererInnendebatte gibt, da
       habe ich das Gefühl, das ist eher AfD-Niveau. So von wegen: Der Klimaschutz
       wird einen Großteil der Bevölkerung total benachteiligen und die arbeitende
       Bevölkerung ins Unglück stürzen. Das ist doch kompletter Unsinn. Es gibt so
       viele Studien, die zeigen, dass es unserer Wirtschaft auch mit
       Klimaschutzmaßnahmen besser gehen wird, dass es auch für Kohlekumpel
       Umschulungen gibt, dass es für diese Menschen Beschäftigung gibt. Das
       soziale Argument sehe ich als Scheinargument für die Leute, die es im
       letzten Jahr nicht geschafft haben, etwas zu verändern.
       
       Dass es der Wirtschaft besser geht, sagen Sie. Um es gleich mal auf die
       Spitze zu treiben: Dürfen wir überhaupt noch Wirtschaftswachstum zulassen?
       Müsste es aus einer so radikalen Position wie der von Fridays for Future
       nicht eher darum gehen, zu schrumpfen? 
       
       Mayer: Also erst einmal sind die Positionen von Fridays for Future nicht
       radikal, sondern lebensnotwendig. Damit stehen wir gesellschaftlich in der
       Mitte. Ich denke, Wachstum muss man anders definieren. Die Frage muss sein,
       wie können wir ein fairer, nachhaltiger Staat werden und im Vergleich zu
       anderen Ländern dabei Spitzenreiter sein? Die allgemeine Definition von
       Wachstum, die wir derzeit haben, ist eine sehr verquere.
       
       Die Grünen haben ihre Wachstumskritik ja irgendwo in den neunziger Jahren
       vergessen. 
       
       Kössler: Ich will jetzt nicht zu weit in diese Debatte einsteigen, aber ich
       persönlich finde, dass wir eine Abkehr vom Wachstum brauchen. Ob das jetzt
       eine Postwachstumsökonomie ist oder eine kontrollierte Schrumpfung oder
       eine Steady-State-Economy mit minimalem Wachstum. Da identifizieren die
       Grünen ja bereits die kleinen Stellschrauben, die schon jetzt möglich sind,
       wie die Abkehr vom Bruttoinlandsprodukt als Indikator für Entwicklung. Wir
       haben als Grüne auch dank Fridays for Future in den letzten Jahren gemerkt,
       dass wir zwar immer noch auf dem richtigen Weg, aber viel zu langsam sind.
       Ich ziehe mir die Kritik also nur so halb an. Die Frage ist, wie man das
       beschleunigt. Ich bin immer jemand gewesen, der für schnelleres Vorgehen
       steht, das Ziel Kohleausstieg 2030 habe ich selber eingebracht und
       erstritten. Wenn jetzt aber einige über 2025 reden wollen, sage ich:Wir
       müssen jetzt auch mal über Strukturen reden.
       
       Heißt? 
       
       Kössler: Zum Beispiel haben wir in Berlin Probleme damit, Solaranlagen auf
       öffentliche Dächer zu bauen oder faire Computermäuse für die Verwaltung zu
       bestellen, weil die Landeshaushaltsordnung sagt, dass es immer die
       billigste Lösung sein muss. Ohne CO2-Preis kommen wir da also nicht weiter.
       So was gibt's natürlich auch auf Bundesebene. Auch die Schwarze Null muss
       weg.
       
       Sie haben mal gesagt: „Fridays for Future war ein Arschtritt, jetzt ist die
       Zeit der Trippelschritte vorbei.“ Wo sind die ausladenden Schritte von
       Rot-Rot-Grün? 
       
       Kössler: Das meinte ich ja gerade: Wir zögern in Berlin, ein
       ambitionierteres Klimaziel auszurufen. Das debattieren wir ja in der
       Koalition und teilweise auch öffentlich und auf den Grünen Parteitagen.
       Gerade hat die grüne Frauen-Vollversammlung das noch mal beschlossen. Aber
       einen Klimanotstand auszurufen und die Zielzahlen anzuerkennen, reicht
       nicht, man muss konkret etwas machen. Ich will zum Beispiel auch einen
       Klimavorbehalt, der zumindest für alle größeren Gesetze gilt.
       
       Mayer: Dafür sind wir auch.
       
       Kössler: Das haben Sie ja auch in die Debatte gebracht, und das ist super.
       Im Übrigen sind Forderungen, wie den Klimaschutz ins Grundgesetz
       aufzunehmen, ganz sicher nicht schädlich, auch wenn die CDU das will. Aber
       ich habe wirklich Angst, dass der ganze Drive jetzt nur für schöne
       Deklarationen genutzt wird, und am Ende laufen wir noch viel tiefer unter
       der Latte durch. Da muss mehr kommen.
       
       Mayer: Deswegen ist es ja auch gut, dass wir weiter freitags streiken und
       nicht sagen: „Oh, jetzt haben wir die Debatte angestoßen, tschüssi, wir
       sehen uns in der Schule.“ Dass wir uns genau anschauen, was ihr da auch in
       Reaktion auf uns produziert. Ich finde es gar nicht so gut, dass uns viele
       Leute weiterhin nur als Arschtritt verstehen, der das Ganze gestartet hat,
       und nicht als echte Interessengruppe, die ein einflussreiches Auge auf die
       Politik behält. Am Anfang wurden wir belächelt, wir waren die süßen
       Fridays, mit denen man mal posieren kann – das hat ja mittlerweile ein
       Ende, auch nach den Ergebnissen der Europawahl. Jetzt werden wir den
       Einfluss, den wir als Kinder und Jugendlich haben, weiter nutzen, werden
       Regierung und Parteien durchgehend factchecken und nicht zu Hause
       herumsitzen.
       
       Kössler: Und das ist großartig. Auch großartig fand ich, dass Fridays for
       Future dann konkrete Forderungen auf den Tisch gelegt hat, dass es konkret
       wurde, dann die Unterstützung durch Parents for Future, Scientists for
       Future, das war alles ideal. Das ist keine Partei, sondern eine Bewegung,
       aber die macht jetzt richtig Dampf von der richtigen Seite … Ich als Grüner
       will ja Druck bekommen, der ist sonst nämlich relativ gering. Wir waren
       lange in der paradoxen Situation, dass sie vielleicht noch nicht das
       gefordert haben, was die Wissenschaft heute für unabdingbar hält, aber
       trotzdem mehr als die meisten Umwelt-NGOs. Wenn ich an den WWF denke,
       Greenpeace oder die Kohlekommission – das war ja alles viel zu wenig. Da
       mussten wir uns als Grüne überlegen, ob wir die Öko-NGOs links überholen.
       Jetzt gibt es endlich einen Akteur, der sagt: Das und das sagt die
       Wissenschaft, und auch ihr müsst euch noch ein bisschen strecken.
       
       Mayer: Genau. Politik wird heute auf der Straße gemacht. Die Parteien sind
       heute eigentlich nicht in der Lage etwas zu fordern, was radikaler oder
       alternativer ist.
       
       Kössler: Wir haben das punktuell beim Kohleausstieg gesehen, bei den
       Klimacamps, die ich auch mitorganisiert habe, bei Ende Gelände. Das hat den
       Diskursraum geöffnet, da haben die Grünen dann natürlich auch mitgemacht
       und auch die Umweltverbände. Als sich dann die Frage stellte, was als
       Nächstes kommt – Bäm! – kam Fridays for Future und sagte: Lasst uns nicht
       alle Energieträger einzeln durchgehen, sondern das Thema Klimaschutz
       wirklich breit diskutieren.
       
       Mayer: Ja, Fridays for Future hat die Klimakrise und Klimapolitik in einem
       viel größeren Zusammenhang aufgegriffen. Vorher war das immer so ein
       bisschen Akupunktur-Klimapolitik: Man verbietet hier mal Plastiktüten, man
       reduziert da mal Strohhalme, aber es war nie allumfassend. Jetzt denkt man
       über einen Klimaschutz nach, der einfach alle Aspekte umfasst.
       
       Kössler: Es soll jetzt keine Entschuldigung sein, aber natürlich haben wir
       Grüne das tief im Innern immer gehofft. Ich glaube nicht, dass die Grünen
       jetzt radikaler geworden sind, auch nicht die Realos, sie trauen sich aber
       jetzt, zu sagen was sie denken.
       
       Mayer: Wobei ich anmerken muss, dass wir trotzdem nicht als Bewegung von
       der links-grünen Seite geframt werden wollen. Wir sagen, Klimaschutz ist
       ein überparteiliches Thema der Mitte. Deswegen freuen wir uns, dass wir
       jetzt zum Beispiel die Initiative Care for Future haben, die an den
       Freitagen eine relativ großen Block hat und auch selbst vor der Charité
       streikt. Das ist eine Vereinigung von ÄrztInnen und Pflegekräften, die
       sagen: Diese Krise ist auch gesundheitlich ein Problem. Leute, die aus der
       Mitte der Gesellschaft kommen und sagen: Hört mal, wir mit unserem
       Fachwissen sehen, dass wir hier etwas total Schädliches tun. Es ist
       unglaublich relevant, dass wir andere Teile der Gesellschaft abholen, die
       uns offen unterstützen.
       
       Was stört Sie so am Label „links“? 
       
       Mayer: Ich würde mich selber als links und grün bezeichnen, und das ist
       eine Einstellung, die ich auch bei anderen gerne sehe. Aber es gibt Leute,
       die etwas konservativer drauf sind, die vor dem Thema Klimaschutz
       zurückschrecken, wenn es in die links-grüne Ecke gedrängt wird. Und das
       Thema muss von allen Seiten gepusht werden.
       
       Sie, Herr Kössler, sind persönlich nun wirklich nah an der Bewegung. Aber
       angefangen von den beiden Senatorinnen Ihrer Partei hört man sonst vor
       allem Pragmatisches und wenig – jetzt sind wir schon wieder bei dem Wort –
       Radikales. Wenn Sie sich die Forderungen der AktivistInnen zueigen machen,
       verdreht man da in Fraktionskreisen oder Koalitionsrunden die Augen? 
       
       Kössler: Vielleicht, aber dann vor allem mit dem Argument, dass wir doch
       genug Baustellen in Berlin haben. Was einerseits stimmt. Andererseits: Das
       hier ist die wichtigste Baustelle, und deswegen versuchen wir ja jetzt,
       indem wir Fridays for Future zum Ansporn nehmen, die Sachen, die wir eh
       schon auf dem Zettel hatten, noch in dieser Legislaturperiode zu machen.
       Man guckt ja politisch immer, was machen wir sofort und was sind
       mittelfristige Projekte. Und jetzt versuchen wir, ein paar Sachen nach
       vorne zu ziehen, etwa die Solarpflicht, die wir beschlossen haben und die
       mittlerweile auch die Linken mittragen. Das ist eine kleine Maßnahme, aber
       ich hoffe, es ist eine Sache, die wir noch in dieser Legislatur
       durchkriegen. Das wäre das erste Mal Ordnungspolitik, etwas Handfestes.
       
       Dabei geht es um die verpflichtende Ausstattung von Neubauten mit
       Photovoltaik oder Solarthermie. Ist das nicht viel zu wenig, nur im Neubau? 
       
       Kössler: Ich würde das auch gerne im Bestand haben.
       
       Mayer: Wir plädieren immer dafür, die Energieversorgung lokal zu regeln.
       Beim weit entfernt gelegenen Kohlekraftwerk ist es viel einfacher zu sagen,
       das interessiert mich nicht. Für eine Anlage vor Ort ist man selbst
       verantwortlich, moralisch und auch einfach als Anwohner. Da wählt man dann
       einfach die klimafreundlichere Methode.
       
       Gerade wurde die Machbarkeitsstudie präsentiert, die einen möglichen
       Kohleausstieg durch Vattenfall bis 2030 vorzeichnet. Wie jetzt klar wurde,
       bedeutet das aber erst mal den Umstieg auf einen lediglich etwas weniger
       klimaschädlichen fossilen Energieträger, nämlich Erdgas. Geht so
       rot-rot-grüne Politik? Man will ganz viel und bekommt dann nur ein
       bisschen? 
       
       Kössler: Bislang liegen ja nur die Eckpunkte der Studie vor, insofern sage
       ich es mit einem gewissen Vorbehalt – aber für mich war das einer der
       bislang ernüchterndsten Momente als in die Politik gegangener
       Klimaaktivist. Wir haben die Ressorts, wir haben die Beschlüsse –
       Kohleausstieg bis 2030 –, wir haben eine gute Wirtschaftslage und mit
       Vattenfall sogar einen Energieversorger, der nicht mehr ganz so schlimm ist
       wie früher. Immerhin sagen sie, sie machen da mit. Die Ausgangslage hätte
       also wirklich schlechter sein können. Trotzdem werden wir jetzt wohl die
       Brücke Erdgas, die wir umgehen wollten, benötigen. Das ist wahnsinnig
       frustrierend. Was ich gut finde, sind zwei Schalthebel, die Regine Günther
       da reingebracht hat: einmal Power-to-Heat, sprich: Wenn genug Strom aus
       Erneuerbaren im Netz ist, wird mit dem Überschuss Wärme erzeugt und das
       Graskraftwerk abgeschaltet. Das zweite ist die Absenkung der Temperatur im
       Fernwärmenetz. Das, gepaart mit einer Solarpflicht, wird mehr dezentrale
       Solarthermie bedeuten. Ich will, dass das Gaskraftwerk so selten läuft wie
       möglich, auch wenn Vattenfall das nicht so gerne hören wird.
       
       Frau Mayer, wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Bewegung? Irgendwann kommt doch
       der Punkt, wo man das Engagement in festere Strukturen überführen muss,
       dann wird ein Verein gegründet oder eine Partei, dann steigen die ersten
       aus … 
       
       Mayer: Also gerade kommen immer noch ganz viele dazu. Das liegt vor allem
       daran, dass große Teile der Gesellschaft Fridays for Future erst langsam
       als etwas wahrnehmen, an dem sie teilhaben können. Dass wir mal eine Partei
       oder ein Verein werden, hoffe ich nicht. Weil wir ja gerade das so
       frustrierend finden, dass die Parteien und Organisationen nicht so
       pariskonform gehandelt haben, wie es wissenschaftlich und moralisch nötig
       gewesen wäre. Ich hoffe, wir bleiben, wie wir sind, dann haben wir die
       meiste Power.
       
       Herr Kössler, Sie haben genickt, wünschen Sie sich nicht, dass die ganzen
       AktivistInnen bei den Grünen eintreten und den Laden aufmischen? 
       
       Kössler: (lacht) Um Gottes Willen! Nein, ich will, dass die auch in die
       anderen Parteien gehen und in die Breite wirken. Der Punkt ist doch: Der
       berühmte Grünen-Slogan „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“
       war ein moralischer Appell von Erwachsenen an Erwachsene, und mit Fridays
       for Future sind jetzt endlich diese Kinder selber da und sagen: Hier sind
       wir. Das muss und soll gar nicht in Parteistrukturen aufgehen, denn eine
       Partei macht auch älter, das sieht man ja bei mir.
       
       Mayer: Ich finde an Fridays for Future faszinierend, wie sich Leute daran
       total verändert haben, das habe ich bei mir und bei anderen beobachtet. Da
       kommen 12-Jährige, die eine Doku über Eisbären gesehen haben und sagen: Ich
       will nicht, dass die sterben! Und ein halbes Jahr später können die einem
       auseinanderfriemeln, wo es in Deutschland und global beim Klimaschutz hakt.
       
       Wir hören jetzt ständig Aussagen wie „Es gibt nur noch wenige Monate zum
       Handeln, sonst ist es zu spät.“ Wie lange kann man mit der Apokalypse
       drohen, ohne dass es unglaubwürdig wird? 
       
       Mayer: Aber es ist wirklich so! Ich arbeite in einem Krankenhaus. Wenn da
       ein Patient mit starken Blutungen kommt, sagen wir: Wir müssen ganz schnell
       handeln, sonst ist es zu spät. Und wenn der Patient sich weigert oder sonst
       etwas dazwischenkommt, versuchen wir natürlich auch noch 15 Minuten später
       einzugreifen. Obwohl wir wissen, dass es eigentlich zu spät ist. Null
       Prozent Chancen haben wir nur, wenn wir gar nicht handeln. Für das Klima
       ist es in drei Jahren wirklich zu spät, deshalb brauchen wir jetzt jeden
       auf der Straße.
       
       Kössler: Ich glaube, wir hätten vor einigen Jahrzehnten die Chance gehabt,
       Klimaschutz als reines Win-Win zu machen. Massive Investitionen in
       Erneuerbare Energien, tolle neue Jobs, am Ende geht es allen noch besser.
       Inzwischen sind wir an einem Punkt, wo es Zielkonflikte und
       Verteilungsfragen gibt. Natürlich gibt es auch noch ganz viele Chancen,
       aber ja, wir werden Leuten etwas wegnehmen. Ich würde es gerne denen
       wegnehmen, bei denen ein Großteil des Vermögens liegt.
       
       Ist so eine Aussage in Ihrer Fraktion mehrheitsfähig? 
       
       Kössler: Ja. Die, die mehr leisten können, müssen das beim Klimaschutz auch
       tun. Und ich glaube, dass Umverteilung sein muss und man das auch begründen
       kann. Man muss es halt gut machen. Eine Vermögenssteuer, eine gerechtere
       Einkommenssteuer, eine starke Erbschaftssteuer, alle würden der
       Gemeinschaft viel Geld bringen, und sie sind mehrheitsfähig in diesem Land.
       Die soziale Frage wird man nicht über Klimapolitik lösen können, sondern
       über gerechtere Steuer- und Sozialpolitik. Wenn wir warten, rennen wir in
       ein System hinein, das vielleicht nicht mehr demokratisch zu organisieren
       ist. Ich habe Angst, dass auch Rechtspopulisten dann merken, dass
       Klimaschutz Sinn macht, und totalitäre Konzepte entwickeln. Das könnte
       schon in zehn Jahren der Fall sein.
       
       Mayer: Fridays for Future betont immer, dass Klimagerechtigkeit ohne
       soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen ist.
       
       Kössler: Ja, zu Recht, und es sollte es einer der Punkte sein, der in den
       nächsten Jahren noch weiterentwickelt wird. Dass Themen wie
       Steuergerechtigkeit und Klimaschutz mehr miteinander verwoben werden, so
       wir jetzt schon Feminismus und Klimaschutz. Vielleicht legen Fridays for
       Future dann auch mal steuerpolitische Forderungen vor.
       
       Ist es eigentlich nicht frustrierend sich vorzustellen, dass es weltweit
       überhaupt keinen Unterschied macht, ob wir uns hier in Berlin
       klimaschutzmäßig auf den Kopf stellen? 
       
       Mayer: Natürlich muss man das global sehen. Zu sagen, das kleine Berlin
       muss jetzt die Welt retten, macht wirklich keinen Sinn. Aber: Berlin ist
       eine moderne, hippe und international sehr beliebte Stadt. Wenn Berlin beim
       Klimaschutz den Vorreiter macht, werden viele Städte versuchen, da
       nachzuziehen. Der Aspekt der Klimaneutralität ist einfach auch ein
       Statussymbol geworden, und ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn alle
       das haben wollen.
       
       19 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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       Ein Jahr lang hat Mechtild Lutze mit dem Ziel eines möglichst niedrigen
       CO2-Verbrauchs gelebt. Materiell habe es ihr an nichts gefehlt, sagt sie.
       
   DIR Klimawandel und Stadt: Das Grüne geht aufs Dach
       
       Das Konzept der Schwammstadt will die Folgen des Klimawandels abmildern.
       Doch grüne Dächer sind kein Ersatz für öffentliche Freiflächen.