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       # taz.de -- Kommentar Koalition in Österreich: In anderen Umständen
       
       > Nach der Bundestagswahl in Österreich steht kein Stein mehr auf dem
       > anderen. Die Koalitionsverhandlungen dürften schwierig werden.
       
   IMG Bild: Hat die Wahl in Österreich überraschend klar gewonnen: der Chef der ÖVP, Sebastian Kurz
       
       An nichts halten Menschen so gerne fest, wie an Meinungen, die sie sich
       einmal gebildet haben. Neben der Trägheit des Geistes gibt es dafür noch
       diffizilere Gründe: Ist die gebildete Meinung falsch, dann würde eine
       Haltungskorrektur das Eingeständnis beinhalten, falsch gelegen zu haben –
       zumindest implizit. „An nichts hält man leidenschaftlicher fest, als an
       seinen Irrtümern“, meinte vor rund 130 Jahren der große österreichische
       Sozialistenführer Victor Adler.
       
       Aber auch wenn sie nicht falsch war, sondern nur durch neue Tatsachen
       überholt wurde, ist es schwierig, sich von einmal gefassten Urteilen zu
       verabschieden, weil wir vielleicht auch darauf bedacht sind, uns als
       „geradlinig“ wahrzunehmen – oder von anderen so wahrgenommen zu werden.
       
       John Maynard Keynes, dem legendären Ökonomen, wurde einmal in so einem Fall
       vorgehalten, seine Meinung geändert zu haben. Seine Antwort: „Wenn sich die
       Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und Sie, was machen Sie?“
       
       ## Kein Stein auf dem anderen
       
       Womöglich sind wir in Österreich gerade in einer solchen Situation, man
       weiß das noch nicht so genau. [1][Vergangenen Sonntag hatten wir Wahlen],
       und es blieb kein Stein auf dem anderen, es ist noch viel Staub in der
       Luft, der sich erst langsam senkt. Aber es ist gut möglich, dass die Lage
       jetzt so aussieht: Sebastian Kurz hat triumphiert – und zugleich verloren.
       
       Es gibt ja, es ist glaube ich eine Paraphrase von Hegels „List der
       Vernunft“ auch die Wendung von der „List der Geschichte“. Damit ist
       gemeint, dass die großen Geschehnisse tun was sie wollen, und wenn jemand
       einen Plan verfolgt, so wird der nicht selten durchkreuzt. Und zwar nicht
       nur, weil die Pläne misslingen, sondern sogar, weil sie gelingen.
       
       Sebastian Kurz hat sich als harter Rechter positioniert, und mit den
       Freiheitlichen eine Rechts-Ultrarechts-Regierung etabliert gehabt. Jetzt
       hat er so gewonnen, dass ihm wohl sein Koalitionspartner abhanden gekommen
       ist. Nach einem Minus von zehn Prozent und angesichts des erwartbaren
       innerparteilichen Chaos werden die eher länger kein stabiler Allierter
       sein. Aber das heißt, dass Sebastian Kurz strategische Konzeption jetzt
       ohne Partner da steht. Er wird sich also wahrscheinlich ändern müssen.
       
       ## Grünes Dilemma
       
       Jetzt stellen sich viele auf eine [2][Koalition von Kurz' Volkspartei mit
       den österreichischen Grünen] ein. Demnächst wird es wohl jedenfalls so
       sein, dass Kurz den Auftrag zur Regierungsbildung bekommt und Gespräche mit
       den Grünen beginnt. Natürlich, ob die zu einem Ergebnis kommen steht in den
       Sternen. Und wenn, dann wird das wohl noch mindestens bis Jahresende
       dauern. Auch Sebastian Kurz weiß wohl, dass er mit den Grünen nicht jene
       Politik fortsetzen wird können, die er mit der FPÖ gemacht hat. Das würde
       einfach nicht funktionieren, und die Grünen würden da natürlich auch nicht
       mittun.
       
       All das wird praktisch schwierig genug. Aber noch schwieriger ist
       vielleicht das atmosphärische Problem. Sebastian Kurz ist in den linken,
       progressiven und auch liberalen Milieus wahrscheinlich noch mehr verhasst
       als die Rechtsextremisten von der FPÖ. Denn die sind nun einmal
       Ultrarechte, sie sind am absoluten Rand des politischen Spektrums und das
       ist seit Jahrzehnten schon so.
       
       Aber Sebastian Kurz hat die politische Mitte, das Klima im Land, mit der
       Übernahme einer Rhetorik rechter Niedertracht vergiftet. Das hat viele
       Leute emotional viel mehr aufgebracht und ist auch sehr schwer zu
       verzeihen.
       
       ## Mitte-Links-Partei benötigt
       
       Andererseits: Wenn man will, dass diese Herrschaft der Niedertracht ein
       Ende nimmt, wird eine Mitte-Links-Partei mit ihm koalieren müssen, also
       entweder Grüne oder Sozialdemokraten. Zugleich wird er wieder mehr in die
       Mitte rücken müssen. Es wird dann womöglich einen anderen Sebastian Kurz
       geben. Und man wird dann vielleicht die stabilisierte Meinung über ihn
       revidieren müssen. Siehe oben bei Keynes: Wenn sich die Umstände ändern,
       ändert man als vernünftiger Mensch auch seine Meinung. Psychologisch
       einfach wird das nicht werden.
       
       Schlimmer: Die Grünen müssen im Grunde ihr Urteil schon vorher ändern. Denn
       man wird kaum in erfolgsversprechende Verhandlungen gehen können, wenn man
       das Gegenüber für das Letzte hält. Man wird Sebastian Kurz also sogar so
       etwas wie einen Vertrauensvorschuss geben müssen. Das wird psychologisch
       noch sehr viel schwieriger.
       
       Ich misstraue ja Menschen, die ihre Meinungen wie ihre Unterhosen wechseln.
       Und ganz generell halten wir solche Flip-Flopper spätestens nach dem
       dritten Twist für unglaubwürdig. Sturheit, die sich weigert, neue Umstände
       zur Kenntnis zu nehmen, ist aber genauso nervig.
       
       Wie so oft im Leben sind die Dinge kompliziert und erfordern ein gehöriges
       Maß an Ambiguitätstoleranz.
       
       5 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Misik
       
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