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       # taz.de -- Provinz und Metropole: So klappt’s auch mit den Nachbarn
       
       > Alle drängen in die Metropolen. Es braucht neue Strukturen, damit Dörfler
       > gerne bleiben und Städter die Dörfer lieben lernen.
       
   IMG Bild: Helfen könnten gegenseitige Wertschätzung und Toleranz sowie Interesse aneinander
       
       Sie wirken arglos. Aber sie sind es nicht. In der kleinen [1][Brandenburger
       Gemeinde,] die ich seit mehr als zwanzig Jahren meine Heimat nennen darf,
       treten sie in letzter Zeit vermehrt auf: Städter auf Immobiliensuche.
       Manche tragen Strohhütchen und ziehen Bollerwagen durch den Ort, drin
       sitzen ihre Kinder und nuckeln an Biobrezen. Andere preschen in
       Carsharing-Autos über die sandigen Schlaglöcher, steigen aus und schieben
       ihre Sonnenbrille ins Haar. Habitus: Ich weiß, ihr habt auf mich gewartet –
       jetzt bin ich ja da.
       
       Ich beobachte sie von meiner Terrasse aus. Und sie tun mir leid. Ich sehe,
       wie sie, scheinbar beiläufig, über Hecken lugen und dabei Grundstücke und
       Häuser mustern. „Wie wäre es mit dem hier?“, fragen sie einander verstohlen
       und deuten mit einer Kopfbewegung auf die Laube unserer Nachbarin. Klick
       macht die Handykamera. Und tatsächlich, der Garten wirkt ungepflegt, das
       windschiefe Häuschen wie vergessen. Aber das ist es weiß Gott nicht. Denn
       gerade neulich erst hat die alte Frau P. ihr Grundstück verkauft. Und,
       halleluja, sie ist jetzt eine gemachte Frau. Strohhütchenmann und
       Sonnenbrillenfrau sind deutlich zu spät dran mit ihrer Idee, abseits des
       überteuerten Innenstadtbereichs nach was Eigenem zu suchen. Sorry, sold
       out!
       
       Am liebsten würde ich sie am Ärmel zupfen und mit dem Finger weit ins
       Brandenburgische weisen, das nur achtzig Kilometer später schon Vorpommern
       heißt. Denn dort gibt es noch ausreichend Platz und Häuser und Wälder, samt
       Seen sowie Angler- und Jagdvereinen.
       
       ## Es fehlt an Jobs
       
       Aber ja, zugegeben, da draußen in der Provinz wartet auch jede Menge
       Unwägbarkeiten. Es fehlen die Jobs. Es ist umständlich, hinzukommen, und
       wirtschaftlich und habituell mindestens herausfordernd, dort sein Glück zu
       suchen. Die Provinz wählt zunehmend rechts, Provinzler gebärden sich als
       Opfer der Verhältnisse, denen sie es via Wahlschein heimzahlen zu meinen
       müssen. Auch wenn diese fatale, fast schon selbstverletzende
       Schlussfolgerung Unsinn ist – mit ihrem Gefühl der Zweitklassigkeit haben
       viele recht. Leider. Landschaft kann man bekanntlich nicht essen. Und
       Straßen, die ins wirtschaftliche Nichts führen, sind einfach nur sinnlos
       verbauter Beton.
       
       Das muss sich schleunigst ändern. Die Dörfler sollten von der Politik durch
       gute Bedingungen dazu gebracht werden, zu bleiben, statt die Städte noch
       weiter zu verstopfen. Und die Urbaniten müssten den Umzug in die Provinz
       nicht als Niederlage, sondern vielmehr als Gewinn in mannigfacher Weise
       verstehen lernen. Das aber hieße: Es muss sich was ändern in diesem Land.
       Politisch, wirtschaftlich, ökologisch, kulturell.
       
       Die Umstände und die Beziehungen zwischen Städtern und Provinzlern sind
       aktuell ziemlich gestört. Hier die Hinterwäldler mit dem Hang zum
       Fertighaus und dem Fahnenmast samt Schwarz-Rot-Gold im Schottergarten. Dort
       die elaborierten [2][Urbaniten, die keinen bezahlbaren Platz finden], um
       ihren privaten Plan vom Glück umzusetzen. Wechselseitig ist jeweils eine
       ganze Menge Geringschätzung im Spiel. Und das, obwohl sich ein jeder nach
       dem jeweils anderen sehnt – nach der großartigen gefährlichen Stadt und dem
       entschleunigten Zauber des Ländlichen.
       
       ## Toleranz und Interesse
       
       Helfen könnten da ein bisschen mehr gegenseitige Wertschätzung und Toleranz
       sowie Interesse aneinander. Aber natürlich vor allem die gute alte
       Struktur- und Standortpolitik. Will sagen: Die Städter müssen raus ins Land
       gelockt werden. Und dafür muss das Land eine Verheißung sein, eine
       Anwartschaft auf ein anderes, aber vor allem gutes Leben in der
       gesellschaftlichen Mitte. Wenn das Dorf, die Kleinstadt nicht länger
       verdammt ist, sich selbst als die allenfalls dritte Wahl unter den gängigen
       Lebensentwürfen zu verstehen und von anderen auch so wahrgenommen zu werden
       – dann klappt’s auch wieder mit den Nachbarn.
       
       Was es dafür braucht – manchmal nicht mehr, aber weitaus öfter auch noch
       nicht –, sind jene Netze, die der Mensch im 21. Jahrhundert grundsätzlich
       braucht. Der Deutsche Landkreistag hat das gemeinsam mit dem Bauernverband
       in diesem Sommer mal in einem Positionspapier an die Bundesregierung
       zusammengefasst. Die Forderungen sind derart naheliegend, dass man sich
       fragt, warum es überhaupt eine [3][Kommission „Gleichwertige
       Lebensverhältnisse“] braucht, die seit Jahresfrist länglich und unter
       großem medialem Getöse darüber berät, was wohl zu tun wäre, um mehr
       Menschen zu einem zufriedenen Leben zu verhelfen.
       
       ## Kommunen und das Geld
       
       Zum einen wäre da ein Nahverkehr, der die Menschen schnell, zuverlässig und
       sicher hinein- und hinausträgt. Zum Zweiten natürlich [4][ein vernünftiges
       Breitbandnetz.] Fangt endlich damit an, Herrgott! Und zwar bevor der letzte
       Handwerker, die beharrliche Architektin und der IT-Frickler ihre Gehöfte
       verlassen haben. Dann natürlich Ärzte. Und Kitas, Schulen, Horte, die ihren
       Namen verdienen. Außerdem: Jobs, Jobs, Jobs, und zwar nicht nur die miesen.
       Was wiederum bedeuten würde, Forschungseinrichtungen, Fachhochschulen,
       Behörden in der Provinz anzusiedeln. Schaut nach Bayern! Dort ist derlei
       seit Jahrzehnten politische Praxis. Und natürlich: Geld. Gebt den Kommunen
       endlich mehr Selbstbestimmung bei den Finanzen.
       
       Und nicht zuletzt: eine neue, weitaus bessere Erzählung. Strukturschwach,
       abgehängt, vereinsamt – das ist das Wortbesteck der allermeist in den
       Landeshauptstädten lebenden und arbeitenden PolitikerInnen und Medienleute.
       Ihre Haltung: wohlmeinend; ihre Erzählung: mitleidig. Wer soll so was
       wollen, Leute?
       
       Dabei leben aktuell lediglich 31 Prozent der 81 Millionen BundesbürgerInnen
       in den Metropolen. Aber 15 Prozent verbringen ihren Alltag in Gemeinden mit
       weniger als 5.000 EinwohnerInnen, 27 Prozent in Kleinstädten, weitere 27
       Prozent in sogenannten Mittelstädten mit 50.000 bis 100.000 BewohnerInnen.
       Man kann also festhalten, dass die überwiegende Mehrheit der BürgerInnen
       dieses Landes sich nicht entscheiden muss zwischen Hafermilch für sich und
       trilingualer Privatschule für ihre Kinder. Sondern exakt die eine Wahl hat:
       gesellschaftliche Normalität.
       
       ## Das Spießige macht Angst
       
       Dieser aus metropolitaner Perspektive vermutlich langweilig anmutende Gang
       der Dinge gewinnt angesichts überfüllter Städte zunehmend an Attraktivität.
       Und tatsächlich erscheint es auch mir, der geborenen Berlinerin, nach mehr
       als zwei Jahrzehnten Waldesrauschen, Flussplätschern in angenehmer Leere
       wahnsinnig stressig, wenn nicht gar unmöglich, in einer immer gröber, enger
       und dreckiger werdenden Stadt wie Berlin Kinder großzuziehen. Ich sehe den
       Stress in den Augen des Hütchenmanns und der Sonnenbrillenfrau flackern.
       
       Aber ich sehe eben auch: mit Furcht gemischte Verachtung, wenn sie auf
       unsere getrimmten Hecken schauen und die geputzten Briefkästen. Und um
       ehrlich zu sein: Das Spießige hat auch mir anfangs Angst eingeflößt. Aber
       hier kommt die gute Nachricht: Es gibt auch Wildhecken. Nein, niemand
       kontrolliert deinen Briefkasten. Und, ja, auch der stark Dialekt sprechende
       Dörfler ist ein interessanter Gesprächspartner.
       
       Da draußen in der Provinz gibt es sie noch, die rare Ware: freie Wohnungen
       und Häuser, in den Nachwendejahren dichtgemachte Schulen und Kitas, freie
       Gewerbeflächen. Was fehlt, sind die Jobs, noch. Angesichts metropolitaner
       Fantasiemieten, übergroßer Kitagruppen und verstopfter Verkehrswege ist es
       nur noch eine Frage der Zeit, dass die Städter gezwungen sein werden, ins
       Ungewisse aufzubrechen. Und das Ungewisse, das ist die Provinz.Wenn es da
       läuft, weicht auch endlich mal Druck aus dieser verängstigten Gesellschaft,
       die Marina und Herfried Münkler in ihrem aktuellen Buch „Abschied vom
       Abstieg“ beschreiben. Die Autoren – sie Literatur-, er
       Politikwissenschaftler – analysieren darin diesen selbstzerstörerischen
       Spin der politischen Ränder, es gehe mit diesem Land permanent bergab. Wir
       alle seien im Grunde verloren. Beide halten es für geboten, haben sie
       kürzlich in einem Welt-Interview erklärt, „das Dramatisierungspotenzial von
       Abstiegs- und Niedergangsnarrativen offenzulegen und die daraus folgende
       Zerstörung von Zuversicht“. Denn: „Negative Narrative sind Doping für
       extreme Parteien.“
       
       Dabei muss man gar nicht rechts denken oder wählen, um auf komische
       Gedanken zu kommen. Die immer voller werdenden Großstädte werden zusehends
       zur Zumutung für jene, die auf der Suche nach einem guten Platz im Leben
       sind. Menschen mit doppeltem Einkommen, mit Kindern und vielleicht alten
       Eltern – kurzum: mit einem Leben – werden in der hochspekulativen sozialen
       Hackordnung nach unten verwiesen. Da warten sie dann auf einen glücklichen
       Zufall, um mithalten zu können im Rennen um Zufriedenheit, Bildung,
       Gesundheit.
       
       Manchmal tritt er ein, dieser Zufall. Dann dürfen sie ein, zwei Plätze
       vorrücken, vorbei an jenen, die nichts zu hoffen haben: Zuwanderer,
       Beeinträchtigte, Hartz-IV-Empfänger, Alleinerziehende. Ein neoliberales
       Trauerspiel. Die Frage ist, ob dieses Land, diese Gesellschaft so
       weitermachen kann. Und die Antwort darauf ist ein deutliches Nein.
       
       6 Oct 2019
       
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