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       # taz.de -- Grünen-Parteitag in Großbritannien: Für ein besseres politisches Klima
       
       > Die britischen Grünen wollen der Brexit-Aufgeregtheit eine „höfliche Art“
       > entgegensetzen. Außerdem setzen sie auf Klima als Zukunftsthema.
       
   IMG Bild: Fühlt sich im Aufwind: der britische Grünen-Co-Chef Jonathan Bartley
       
       Newport taz | „Ja zu Europa – Nein zum Klimachaos“ steht zusammen mit einer
       grünen Weltkugel an den Wänden. Es ist Mittagspause im großen
       Konferenzzentrum im walisischen Newport und die meisten Delegierten haben
       den Saal verlassen.
       
       In den oberen Reihen sitzt ein Mann gelassen im Tweedjacket mit rotem
       Pullover. Er ist ein Stadtrat aus dem Südlondoner Bezirk Lambeth, der
       hierher zum Jahresparteitag der Grünen von England und Wales gekommen ist.
       
       Der 47-jährige Jonathan Bartley ist Co-Vorsitzender der Grünen zusammen mit
       Siân Berry, einer Abgeordneten im Londoner Stadtrat. Am Freitag hat Bartley
       vor dem Parteitag über Asylpolitik gesprochen.
       
       Im Gespräch mit der taz zitiert er die katastrophalen Zustände für
       Flüchtlinge im französischen Calais als Beispiel der Unfähigkeit des
       britischen Innenministeriums: Alleinstehende minderjährige Flüchtlinge
       würden auch dann aus Großbritannien ausgesperrt, wenn sie dort Familie
       haben. Manche überleben das nicht. Er kennt den Fall eines Jugendlichen,
       dem das Amt zwei Wochen nach seinem Tod die Einreiseerlaubnis erteilte.
       
       ## Kleine Partei im Aufwind
       
       Es gibt nicht viele Politiker in Großbritannien, die über solche Dinge
       gerne reden. Die britischen Grünen fühlen sich im Aufwind: Bei den
       Europawahlen holten sie sieben statt drei Sitze, bei Kommunalwahlen
       verdoppelten sie ihre Präsenz in Gemeindeparlamenten von 178 auf 362. Das
       lässt sie nun, mit dem Klimaprotest im Rücken, auf weitere Erfolge hoffen.
       
       Dafür hat die Partei Analysen zum Wahlverhalten durchgeführt, erzählt
       Bartley. Es gab eine große Überraschung: Im Jahr 2017 waren ein Drittel der
       Wähler*Innen der Grünen ehemalige Konservative.
       
       Wie gewinnt man konservative Wähler? Vorstandsmitglied Britta Goodman, eine
       ehemalige Hamburgerin, erklärt der taz, dass zu Beginn der neuen
       Klimaproteste die Grünen „auf höfliche britische Art“ vorgingen und darauf
       drängten, „keine Parteifahnen und Banner mitzubringen“ – obwohl bei
       Extinction Rebellion viele Parteimitglieder mitmachen.
       
       In Zukunft wollen die Grünen sich nicht mehr verstecken. „Die Bewegungen
       haben das gleiche Ziel, die Grünen sind der politische Arm davon“, so
       Bartley.
       
       Carla Denyer, ausgebildete Ingenieurin, Mitte 30 und Stadträtin in Bristol,
       erzählt, wie auf ihre Initiative hin im November 2018 Bristol als erste
       Stadt in Europa den Klimanotstand ausrief. Es löste einen politischen
       Tsunami aus: Inzwischen haben 230 von 408 Kreisbehörden im Vereinigten
       Königreich den [1][Klimanotstand] ausgerufen. Denyer tritt nun bei den
       kommenden Parlamentswahlen für den Wahlkreis West-Bristol als grüne
       Unterhauskandidatin an.
       
       Ein Erfolg ist keineswegs sicher. Trotz oft beachtlicher Prozenterfolge hat
       das britische Mehrheitswahlrecht bisher einen größeren Durchbruch der
       Grünen bei Wahlen verhindert. Bis heute sitzt nur eine Grüne im Unterhaus,
       Caroline Lucas für Brighton. In West-Bristol holten die Grünen [2][bei der
       Parlamentswahl 2015] 26,8 Prozent, aber Labour gewann den Wahlkreis. 2017,
       auf dem Höhepunkt der Corbyn-Welle, rutschten die Grünen auf nur 12,9
       Prozent ab.
       
       Doch jetzt ist Großbritanniens Parteienlandschaft in Bewegung und Denyer
       ist hoffnungsvoll. Wobei sich die Grünen reale Chancen bisher nur in drei
       Wahlkreisen ausrechnen: in West-Bristol, Brighton und der Isle of Wight.
       Ansonsten setzt man auf die Kommunalpolitik.
       
       ## Klima retten – von unten
       
       „Unser Aktionsprogramm zu den Klimanotständen spornt Lokalbehörden dazu an,
       notwendige politische Veränderungen vor Ort durchzuführen“, erläutert
       Britta Goodman. „Irgendwann kommt der Punkt, wo weiterführende
       Veränderungen nur von der nationalen Regierung kommen können. Teil unseres
       Programms ist, dass die Lokalbehörden dann direkt Druck auf das Unterhaus
       machen.“
       
       Aber ist das Hauptthema in Großbritannien nicht der Brexit? Jonathan
       Bartley lächelt und sagt: „Das System, das das Klima kaputtmacht, macht
       auch die Menschen kaputt“ – die englischen Worte sind etwas drastischer.
       „Wir haben deshalb ein soziales Programm, beispielsweise ein garantiertes
       Grundeinkommen, und Unterstützung, damit ein Kleinlieferant seinen Diesel
       in ein Elektrofahrzeug umtauschen kann.“ Bezahlen wollen die Grünen das
       durch Steuererhöhungen.
       
       Theo Simon, 61, er wohnt in der Nähe von Glastonbury, glaubt, dass sogar
       Brexiteers sich den Grünen verschreiben könnten. Zwar ist die Partei für
       den Verbleib in der EU, aber früher kämpfte sie gegen den Euro und die
       Lissabon-Verträge.
       
       „Auch heute ist unser Motto: Verbleib mit Reformen. Unsere Kritik an Europa
       ist wegen der Polarisierung der Brexit-Debatte etwas untergegangen. In
       meiner Region sind die erwachsenen Kinder der erzkonservativen ländlichen
       Vorgeneration sozial engagiert. Hinter vorgehaltener Hand, vielleicht an
       den Wahlurnen, sind sie für die Grünen.“
       
       Die Mitgliederzahl der Grünen liegt derzeit bei immerhin 50.000 – die
       Liberaldemokraten haben 115.000 Mitglieder, die Konservativen 180.000 und
       Labour 480.000. Junge Grüne wie die Co-Vorsitzenden Rosie Rawle, 27, und
       Tom Hazell, 19, sprechen von einem merkbaren Zuwachs: Junge Grüne sind bei
       [3][Extinction Rebellion] oder Schulstreiks aktiv, sie sorgen dafür, dass
       ihre Universitäten nicht mehr in fossile Energie investieren.
       
       Als Nächstes wollen sie „kommunalen Sozialismus“ mit Wohnungskooperativen,
       öffentliche Landnutzung, eine Reform der Lieferkette von Produkten und
       Wahlrecht ab 16. Dennoch sind auf den Parteitagen junge Grüne in der
       Minderheit.
       
       Zum Abschluss spricht die Vorsitzende Siân Berry, die sich 2020 als
       Bürgermeisterkandidatin in London versuchen will, vor einem nicht ganz
       vollen Plenarsaal und wirft den anderen Parteien vor, nicht grün genug zu
       sein.
       
       Doch nach einem Jahr feuriger Klimaproteste und lauter Stimmen zum Brexit
       ist sie nicht die einzige Grüne, die im Auftritt schon fast zu freundlich
       und bescheiden erscheint.
       
       8 Oct 2019
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn
       
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