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       # taz.de -- Schüsse und Tote in Halle: Der rechte Wahnsinn
       
       > In Halle versucht ein Rechtsextremist die Synagoge zu stürmen. Er
       > erschießt eine Passantin sowie einen Mann in einem Dönerimbiss. Die Tat
       > streamt er live.
       
   IMG Bild: Wer kann hier den Überblick bewahren? SEK-Beamte in Halle nach dem Anschlag
       
       Halle/Berlin taz | Auf der Straße vor der Synagoge in Halle liegt eine
       Leiche, abgedeckt mit einem blauen Tuch, daneben steht ein schwarzer
       Rucksack. Auf dem Asphalt liegen Patronenhülsen. Ein Mensch ist tot,
       ermordet durch Schüsse. So viel ist klar an diesem Mittwochnachmittag in
       Halle. Aber so viel Weiteres bleibt vorerst unklar.
       
       Mit einem Gewehr hatte am Mittag ein Täter versucht, in die jüdische
       Synagoge in Halle einzudringen. Fotos zeigen einen Mann mit Helm in einer
       Art Kampfanzug, auch Augenzeugen sprechen davon. Gemeindevorstand Max
       Privorozki berichtete Medien, man habe den Täter über eine
       Überwachungskamera gesehen, beim vergeblichen Versuch, eine Tür
       einzuschießen. Daraufhin soll der Angreifer auf Passanten vor der Synagoge
       geschossen haben. In dem Gotteshaus seien 70 bis 80 Gläubige versammelt
       gewesen, um das jüdische Fest Jom Kippur zu feiern.
       
       Medien berichteten auch, der Täter habe selbst gebaute Sprengsätze vor der
       Synagoge abgelegt. Zudem war von Schüssen und Explosionen am benachbarten
       Jüdischen Friedhof die Rede.
       
       Die Lage war zunächst völlig unübersichtlich. War ein Täter unterwegs?
       Waren es mehrere?
       
       Die Polizei jedenfalls rückte zu einem Großeinsatz aus – und sprach
       zunächst ebenso von mehreren Tätern. „Bitte bleiben Sie in Ihren Wohnungen
       oder suchen Sie sichere Orte auf“, schallten Lautsprecherdurchsagen durch
       Halle. Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) berief einen Stab
       für „Außergewöhnliche Ereignisse“ unter seiner Leitung ein. Er sprach
       zunächst von einer „Amoklage“. Die Bahn sperrte den Bahnhof Halle.
       
       ## Amoklage in der Stadt
       
       Augenzeugen berichteten nun auch von Schüssen auf einen Dönerladen in der
       nahen Ludwig-Wucherer-Straße, einer Hauptverkehrsstraße. Ein Foto zeigt den
       Täter mit Gewehr vor dem Geschäft. Laut Augenzeugen habe der Angreifer in
       den Laden geschossen, es habe einen weiteren Toten gegeben. Ein Video zeigt
       einen der Täter hinter einem silbernen Kombi auf der
       Ludwig-Wucherer-Straße, von dort um sich schießend.
       
       Dann überschlagen sich die Nachrichten. Meldungen machen die Runde, wonach
       auch in Landsberg, 15 Kilometer vor Halle, Schüsse gefallen seien. Die
       Polizei rückte auch zu Einsätzen in Zeitz und Wiedersdorf aus. Die Lage
       bleibt auch hier unklar.
       
       Um kurz nach 13 Uhr meldet die Polizei dann zwei Todesopfer, eine Frau und
       einen Mann. Und wenig später auch eine Festnahme. Wie sich später
       herausstellen wird, ist es wohl der einzige Täter: Stephan B., 27 Jahre,
       aus Sachsen-Anhalt.
       
       ## Tätervideo im Netz
       
       Der Mann übertrug seine Tat mit einer Helmkamera ins Internet. Die taz
       konnte das Video einsehen. Der Holocaust sei nie geschehen, sagt Stephan B.
       dort vor seiner Tat auf Englisch. Und der Grund für alle Probleme seien die
       Juden. Dann fährt er mit seinem Auto, einem Leihwagen, zur Synagoge und
       beginnt seinen Anschlag.
       
       Zu sehen ist, dass Stephan B. sein Auto mit Munition voll beladen hat – und
       wie er immer wieder Probleme mit seinen Waffen hat. Im Video bezeichnet er
       sich darauf als „Versager“. Die Frau vor der Synagoge erschießt B.
       kaltblütig als Zufallsopfer. Als ihm der Eintritt in das Gotteshaus trotz
       mehrerer Schüsse auf die Tür nicht gelingt, fährt er mit seinem Wagen
       weiter – und findet auch hier offenbar zufällig sein nächstes Ziel, einen
       Döner-Imbiss. „Döner, nehm' wa“, sagt Stephan B. Er stürmt in den Laden und
       erschießt einen Mann.
       
       Bei einem anschließenden Schusswechsel mit der Polizei auf der Straße vor
       dem Laden wird Stephan B. offenbar am Hals verletzt. Er fährt mit seinem
       Auto davon. Später wird er auf einer Landstraße vor Halle von Polizisten
       festgenommen.
       
       Da herrscht bereits bundesweite Alarmstimmung. Ministerpräsident Reiner
       Haseloff (CDU) bricht wenig später einen Besuch in Brüssel ab. Er spricht
       von einer „verabscheuungswürdigen Tat“. Auch Innenminister Holger
       Stahlknecht (CDU) zeigt sich „tief betroffen und erschüttert“. „Es ist
       schwer in Worte zu fassen, was heute in Halle passiert ist und passiert.“
       
       ## Fehlerhafte Information
       
       Im Chaos geschehen auch Pannen. So wird der kleine liberale Ableger der
       Jüdischen Gemeinde, der seinen Gebetsraum im Norden Halles hat, vorerst
       nicht von der Polizei informiert. Man wisse nichts von Schüssen, sagt dort
       ein Gemeindemitglied, als die taz am Nachmittag anruft.
       
       Bundesweit ziehen derweil Polizisten vor Synagogen auf. Auf Bundesstraßen
       rund um Halle kontrollieren Beamte Autos. Andere patrouillieren durch Züge,
       die durch Sachsen-Anhalt fahren.
       
       In Berlin platzen die Neuigkeiten aus Halle in die laufende
       Regierungspressekonferenz. Regierungssprecher Steffen Seibert spricht von
       „schrecklichen Nachrichten“. Man sei in Gedanken bei den Angehörigen.
       
       ## Bundesanwaltschaft ermittelt
       
       Und die Bundesanwaltschaft reagiert: [1][Sie zieht noch am Nachmittag die
       Ermittlungen an sich]. Der Fall habe eine besondere Bedeutung und stelle
       eine Gefahr für die innere Sicherheit des gesamten Landes dar, sagt eine
       Sprecherin der taz. Später ist die Rede von „ausreichend Anhaltspunkte für
       einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund“.
       
       Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) spricht am Abend von einem
       „zumindest antisemitischen Angriff“. „Das ist ein abscheulicher Angriff auf
       unser friedliches Zusammenleben.“
       
       In Halle äußerten sich zuvor Augenzeugen vor der abgeriegelten Synagoge.
       Eine Frau wohnt in der fast direkt an die Synagoge angrenzenden
       Schillerstraße. „Ich war auf der Arbeit, als das hier passiert ist“, sagt
       sie, „zum Glück.“ Eine junge Frau berichtet von einem Gerücht: In einer
       Edeka-Filiale in der Südstadt soll es eine Geiselnahme gegeben haben, 70
       Leute. Die Polizei dementiert das [2][auf Twitter]. Sie bittet darum, Ruhe
       zu bewahren: „Glauben Sie keinen Gerüchten und Falschmeldungen. Das
       unüberlegte Teilen erschwert uns die Arbeit.“
       
       Einen Häuserblock weiter kann man den angegriffenen „Kiez-Döner“ sehen. Ein
       Roboter sei gerade noch drinnen, heißt es – er solle untersuchen, ob sich
       noch Sprengstoff im Laden befindet. Davor bücken sich Polizisten immer
       wieder und betrachen etwas am Boden. AnwohnerInnen werden auch hier nicht
       zu ihren Wohnungen durchgelassen.
       
       Einer von ihnen gibt ein Fernsehinterview, er soll bedient haben, als die
       Tat im Laden geschah. Daneben steht nach eigenen Angaben der Besitzer des
       Ladens. Seinen Namen will er nicht nennen, „lieber nicht“, sagte er. Bei
       der Tat sei er nicht hier gewesen. „Fünf, sechs Minuten vorher war ich
       dort.“ Er selbst habe aber noch den Täter gesehen, wie er auf Polizisten
       schoss.
       
       ## Synagoge wird evakuiert
       
       Noch am Nachmittag werden die Gemeindemitglieder aus der Synagoge
       evakuiert. Sie liegt am Rand des Paulusviertels im Norden von Halle, einem
       angesagten Altbauviertel, in dem viele Student*innen und Mitarbeiter*innen
       der nahen Universität wohnen. In dem Viertel lebten bis in die 30er Jahre
       viele jüdische Bürger*innen.
       
       Der Anschlag ist damit die nächste rechtsterroristische Tat nach dem Mord
       an dem Kasseler Regierungspräsidenten [3][Walter Lübcke] von Juni. Schon
       zuvor hatte der NSU zehn Menschen erschossen, darunter neun Migranten. Auch
       Synagogen standen immer wieder im Visier von Rechtsextremisten.
       
       9 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schuesse-und-Tote-in-Halle/!5632432
   DIR [2] https://twitter.com/Polizei_HAL/status/1181929176913371138
   DIR [3] /Mord-an-CDU-Politiker-Walter-Luebcke/!5629282
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
   DIR Helke Ellersiek
   DIR Jean-Philipp Baeck
       
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