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       # taz.de -- Die Wahrheit: Albtraum Sport!
       
       > Tagebuch einer Oblomowa: Leibesübungen sind Anschläge aufs Wohlbefinden.
       > Besser ist, man kann dem Treiben gemütlich auf dem Sofa beiwohnen.
       
   IMG Bild: Nicht immer einfach: Mensch auf Entzug von der Droge Arbeit
       
       Schon als Kind schien mir jede Art von Sport ein Anschlag auf mein
       Wohlbefinden. Gerade noch stapelt man Bauklötze, schubst Roller, rumpelt
       auf Rollschuhen durch die Gegend, fällt vom Fahrrad und führt ein halbwegs
       normales Kinderleben, in das mäßig anstrengende Aktivitäten eingestreut
       sind, und plötzlich ist man in der Schule und der Terror geht los. Wer
       rennt am schnellsten, wirft am weitesten, das ganze Elend.
       Bundesjugendspiele sind der Albtraum eines zum Oblomow geborenen Wesens,
       das seine Tage lieber lesend auf der Couch und mit Binge-Watching
       verbotener Filme verbringt.
       
       Stattdessen muss man sich beim Weitwurf blamieren, indem man den Ball zwei
       Meter entfernt in den Boden rammt und sich angstschlotternd weigert, über
       den oberen Holmen eines nur zur eigenen Demütigung entwickelten
       Folterinstruments namens Barren zu springen, während unten am Abgrund die
       Klasse höhnt. Ich mied derlei so gut es ging, und schaffte es schließlich,
       beim verträumten Rumstehen auf dem Pausenhof umgerannt zu werden und mir
       ein Bein zu brechen. Heimlich dankte ich dem Täter für die achtwöchige
       Befreiung vom Sportunterricht.
       
       Mehr denn je bin ich überzeugt, Leibesübungen sind ein Resultat westlichen
       Bewegungswahns. Die potenziellen Zuschauer bei der Leichtathletik-WM in
       Katar zeigten jedenfalls eine gesunde Abneigung, vor Erschöpfung halbtot
       herumtaumelnde Athleten anzufeuern, ihnen ist offenbar klar, dass
       Marathonläufe bei zweiunddreißig Grad und maximaler Luftfeuchtigkeit
       komplett bekloppt und gesundheitsschädlich sind. Eine Erkenntnis, die sich
       bei Sportfunktionären frühestens nach dem ersten Massensterben durchsetzen
       wird.
       
       Derweil verfiel das hiesige Publikum der Turn-WM beim Anblick von noch nie
       Dagewesenem in Schnappatmung. Ich sah mir an, wie sich eine Außerirdische
       bei einem mit bloßem Auge nicht nachvollziehbaren, achtfach geschraubten,
       rückwärts diagonal eingesprungenen Quadrupelsalto bis unters Hallendach
       katapultierte und nach dem Sieg der Schwerkraft eine bombensichere Landung
       auf die Matte nagelte. Dabei lächelte sie gelassen, während mir der
       Sympathieschmerz in die Lendenwirbel fuhr.
       
       ## Doppelschraube locker
       
       Nicht mal die Stoßdämpfer eines Geländewagens würden Ähnliches aushalten,
       aber wahrscheinlich macht man so was auf dem Mars schon vor dem Frühstück.
       Ich hatte Mitleid mit der meilenweit abgehängten Konkurrenz, die immerhin
       einen fehlerfreien „Jurtschenko mit Doppelschraube“ hinlegte.
       
       Als ich Kind war, versetzte ein Eislaufpaar die Fans mit der „Todesspirale“
       in Verzückung, eine Figur, bei der die Frau rücklings waagerecht am
       ausgestreckten Arm des Mannes im Kreis übers Eis geschleudert wird, ihr
       Hinterkopf eine Haarbreite über der Oberfläche. Während ich um ihr nacktes
       Leben betete, beschloss ich, Weltmeisterin im Café-Rumsitzen, Zeitungslesen
       und Leutenzugucken zu werden. Ich nenne es Sport im Alltag.
       
       10 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Frankenberg
       
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