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       # taz.de -- Gesellschaftliche Verantwortung: Wir haben versagt
       
       > Das Gewaltvideo von Halle zeigt, dass der Täter in jeder Hinsicht ein
       > Idiot ist. Und, auch das ist erschütternd, ein Deutscher wie Du und Ich.
       
   IMG Bild: „Wir haben zugelassen, dass eine Stimmung entstand, die diese Tat ermöglicht hat“
       
       Es gibt so viel, worüber man schreiben könnte und sollte, wenn man einen
       Kolumnenplatz zur Verfügung hat. Über den Verrat an den Kurden
       beispielsweise und über tote Kinder, die Recep Erdogan, Präsident unseres
       Nato-Verbündeten Türkei, [1][mit seinem Angriff auf syrisches Staatsgebiet]
       zu verantworten hat. Oder darüber, dass [2][der ägyptische Demokrat Alaa
       Abd-el Fattah] – dem nichts anderes als eben das vorgeworfen wird: dass er
       nämlich Demokrat ist – offenbar im Gefängnis gefoltert wurde und seine
       Familie um sein Leben fürchtet.
       
       Ja, es gibt vieles, worüber geschrieben werden muss. Aber manchmal, ganz
       selten, gibt es Nachrichten, die lähmen und so verstörend sind, dass im
       Kopf vorübergehend kein Platz mehr ist, um sich auf andere Themen zu
       konzentrieren. [3][Der versuchte Angriff auf eine Synagoge] in Deutschland
       ist eine solche Nachricht.
       
       Ich kann nichts für den Holocaust. Mir ist die „Gnade der späten Geburt“
       widerfahren, wie mein Vater, der Publizist Günter Gaus, es genannt hat: zu
       spät auf die Welt gekommen, als dass ich mich noch hätte mitschuldig machen
       können. Aber die Verantwortung dafür, dass es gilt, Anfängen zu wehren und
       Sorge zu tragen, dass so etwas nie, nie wieder geschehen kann – die trage
       ich, die tragen wir alle in Deutschland. Für immer. Meldungen über
       unzureichenden Schutz einer Synagoge und eine zunächst zögerliche Reaktion
       der Polizei auf den Angriff beweisen, dass wir dieser Verantwortung nicht
       gerecht geworden sind. Sie nicht, ich nicht, wir alle nicht. Wir haben
       zugelassen, dass in manchen Kreisen eine Stimmung entstand, die diese Tat
       ermöglicht hat. Wir haben versagt.
       
       ## „Döner – neh´m wer“
       
       Vielleicht ist das der Grund dafür, dass in diesen Tagen so wenig die Rede
       vom Mord im Döner-Laden ist, den der Täter verübt hat, nachdem es ihm nicht
       gelungen war, in die Synagoge einzudringen. Aber es sollte die Rede davon
       sein, genau so oft und genau so eindringlich wie von dem Angriff auf die
       Synagoge. Denn das Video, das der Täter ins Netz gestellt hatte, beweist,
       dass er sein nächstes Ziel absichtsvoll ins Visier genommen hatte.
       
       „Döner – neh´m wer“, sagte er, als er nach seinem ersten Mord an einer
       Passantin frustriert und zunächst planlos in Halle herumfuhr. Döner – den
       nehmen wir: Ja, natürlich. Es geht nicht nur um Angriffe auf Juden, sondern
       um Hass auf alle und alles, was nicht deutsch ist. Angriffe auf
       gastronomische Einrichtungen haben in dieser Hinsicht Tradition. Siehe NSU.
       
       Stichwort Video. Gewaltvideos zu sperren ist grundsätzlich eine gute Idee.
       Ich bin nicht ganz sicher, ob das für das Video des Mörders von Halle auch
       gilt. Es wird vermutlich nie Kultstatus erreichen, ganz egal auf welchen
       Plattformen es anzusehen ist. Dafür zeigt sich auf den Aufnahmen zu
       deutlich, dass der Mann ein Idiot ist. Nicht nur wegen seiner
       Geisteshaltung, sondern auch, weil er nicht einmal in technischer Hinsicht
       weiß, was er tut.
       
       Das allerdings entlastet beim Hinsehen nicht. Das Video ist erschütternd.
       Nicht nur wegen der widerlichen Morde und der unfassbaren Gefühlskälte, mit
       denen sie verübt werden. Sondern auch wegen der langen Passagen, in denen
       nichts, gar nichts, geschieht. Außer, dass sich der Mörder verhält, wie wir
       alle das auch hundert, tausend, zehntausend Mal getan haben: Er hält brav
       vor einer roten Ampel. Er fragt höflich „wie bitte?“ als ihm ein Mann etwas
       zuruft, was er nicht versteht. Er ist ein Deutscher. Wie ich eine Deutsche
       bin. Wir beide sind ganz und gar integriert in diesem Land. Wir haben
       vieles gemeinsam. Es wäre mir lieber, ich hätte das Video nicht gesehen.
       
       12 Oct 2019
       
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