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       # taz.de -- Klimaproteste als Befreiung: Extinction Rebellion ist Ecstacy
       
       > Die Klimabewegung Extinction Rebellion wird als esoterisch kritisiert.
       > Gesänge, Rituale und der Haka sind aber ein Akt der Entkolonialisierung.
       
   IMG Bild: Protest von Extinction Rebellion in Neuseeland
       
       Von Yogaschulen bis Psychogurus – ich kenne sie alle. Manche Kulte wie
       OneTaste (Orgasmische Meditation), TNT (The New Tantra) oder Oshos Ashram
       in Indien habe ich selbst besucht. Kürzlich war ich, ohne es zu ahnen,
       erstmals bei einer mutmaßlich esoterischen Weltuntergangssekte: bei
       [1][Extinction Rebellion (XR)].
       
       Schade, dass radikale Linke, die in Europa behaupten, XR sei zu weiß,
       rassistisch oder elitär, nicht an Neuseelands Kapiti-Küste dabei waren.
       
       Eine Woche vor dem Start der weltweiten Aktionswoche nahm ich – zusammen
       mit einer Riesenkrake und Rentnern, die jedem Buchklub gut zu Gesicht
       stehen würden – am südlichsten Vorbereitungstraining auf einem Campingplatz
       in Neuseeland teil. Am Montag, nachdem die Rebellen als Frühaufsteher
       bereits ein Ministerium in Wellington blockiert und sich innen an eine
       Bankfiliale geklebt hatten, brach in London ein Mann beim Straßenprotest
       zusammen.
       
       Er zitterte, weinte, hielt verzweifelt ein Foto seiner Kinder hoch. Jutta
       Ditfurth warnte währenddessen [2][per Twitter] vor XR: Eine Sekte sei das,
       antiintellektuell und hyperemotional.
       
       ## Aktivistisch, nicht esoterisch
       
       Ich habe deutlich mehr Zeit mit esoterischen als politisch aktivistischen
       Gruppen verbracht. Die Tage mit XR fallen ins letztere Spektrum, auch wenn
       zwei Küchenhelferinnen beim Camp in einer Pause meditierten und nachmittags
       eine Yogastunde abgehalten wurde.
       
       Das Ethos, auf Packpapier an die Wand gepinnt, entsprach jedoch eher den
       Prinzipien von Burning Man und gewaltfreier Kommunikation (NVC) als von
       K-Gruppen: keine verbalen Angriffe, kein „blaming and shaming“, sondern
       Selbstverantwortung und „radikale Inklusivität“.
       
       Der erste Morgen begann mit einem Powhiri, der traditionellen
       Maori-Begrüßungszeremonie. Rebell Haimana Hirini stand mit nackten Füßen
       auf dem nassen Rasen, hielt einen „talking stick“ Richtung Himmel und
       dankte seinen Geschwistern: den Bäumen, den Bergen, dem Wasser.
       
       Neuseelands XR-Ableger hat die Forderungen von Extinction Rebellion in die
       indigene Sprache übersetzt und will eine neue hinzufügen: Anerkennung der
       Rechte der Ureinwohner. Deren Kultur, die im zweisprachigen Aotearoa
       vertraglich verankert ist, ist spirituell geprägt.
       
       Menschen stehen nicht über der Natur, sondern sind Teil von ihr. Gesänge,
       Rituale und der Haka sind ein Akt der Entkolonialisierung – nicht der
       geistigen Vernebelung, wie Ditfurth sie fürchtet.
       
       Wäre sie jedoch in dem Zelt mit der „Wahrheitsmandala“-Session gelandet,
       hätte sie sicher weitere wütende Tweets losgelassen. Dort ging es um die
       Spirale, die man emotional durchläuft: zuerst Dankbarkeit, die uns „zurück
       zur Quelle“ bringt, dann Respekt für den „inneren Schmerz“, schließlich
       „mit neuen Augen sehen“, bevor man nach vorne schreitet.
       
       Das klingt esoterisch, ist aber psychologisch. Wenn XR wie eine Religion
       wirkt, dann weniger als Opium fürs Volk, sondern als Ecstacy. MDMA öffnet
       Herzen und macht empathisch.
       
       „Regen“ ist die Abkürzung für Regeneration und eine Säule von XR, damit die
       Rebellen keinen Burn-out erleiden. Ich ließ die wenigen Body-Mind-Angebote
       für Deeskalierungstrainings aus. Apropos „self care“: Am besten besucht war
       das juristische Briefing mit Gebärdendolmetscherin, um uns sicher in die
       Grauzone zwischen Demonstration und Verhaftung zu entsenden.
       
       Gemalt wurde viel: XR-Sanduhrsymbole auf Flaggen mit vom Aussterben
       bedrohten Vögeln als endemische Note. Abends sangen wir im Zelt: „The
       children have spoken – the earth won’t be broken.“
       
       Sea Rotmann, gebürtige Grazerin mit türkis gefärbten Haaren, ist eine der
       XR-SprecherInnen in Neuseeland. Sie zog sich ein Krakenkostüm an, um uns
       Neue bei den „Rebellen ohne Grenzen“ einzuführen – nicht als Gag, sondern
       weil das Tier der Vorbote der ökologischen Katastrophe ist. Die promovierte
       Meeresbiologin tauchte am sterbenden Great-Barrier-Riff und hat die
       Antarktis bereist.
       
       ## „Danke, dass ihr meine Trauer teilt. l love you“
       
       Rotmann erläuterte zuerst alle furchtbaren Fakten und sprach dann über den
       „Albtraum, den wir uns nicht vorstellen können“, mit Tränen in den Augen.
       Am Ende ihres Vortrags weinte ich auch. Ich dachte an den Strand voller
       Vögel, an dem ich noch früh am Morgen gestanden hatte, und an meine Söhne.
       Einer ist jetzt Vegetarier, der andere will definitiv keine Kinder
       bekommen. „Dr. Sea“, wie die Wissenschaftlerin von den Rebellen genannt
       wird, klappte ihren Laptop zu. „Danke, dass ihr meine Trauer teilt. I love
       you.“
       
       Feuchte Augen sah ich auch vor dem Parlament in Wellington, als dort die
       Trauerbrigade in roten Gewändern und mit weißen Gesichtern auftauchte. Eine
       der Performerinnen, als Mutter Erde dekoriert, stillte ihr Baby. Der
       Anblick flößte Ehrfurcht ein. Selten sah ein Untergangszenario so stylish
       aus. Der XR-Newsletter mit ähnlichen Fotoszenen bedient sprachlich die
       gleiche Klaviatur: „Mitgefühl; Wahrnehmung; Mut“, „du bist nicht allein“,
       „wir sind eine Bewegung wie keine andere“.
       
       Apokalyptische Visionen, Gruppenprozesse und Gefühlswallungen – das ist
       auch Sektenstoff, der im Juli auf der Jahrestagung der International Cultic
       Studies Association (ICSA) behandelt wurde. Dort hielt Kultforscher Yuval
       Laor aus Colorado einen Vortrag über Ehrfurcht, Konversion und religiöse
       Inbrunst. Erweckungserlebnisse, die uns an Gruppen und Menschen binden,
       funktionieren wie Verliebtsein – man ist manipulierbar, blind gläubig, kann
       abhängig werden.
       
       Wie kritisch sieht Laor Extinction Rebellion in diesem Kontext? Inbrunst
       und Begeisterung, ob durch [3][Traumabonding] oder prominente Unterstützer
       wie Keira Knightley und Michael Stipe, sei an sich wertfrei, sagt er.
       Sekten sind laut Definition schlecht, aber viele positive Gruppen ähneln
       ihnen in manchen Aspekten, zum Beispiel die französische Résistance im
       Zweiten Weltkrieg. „Ehrfurcht einzuflößen ist ein gutes Mittel, um Menschen
       zu beeinflussen. Wenn die Situation ernst ist, wäre es nachlässig, das
       nicht zu benutzen, um Massen zu einem Wandel zu bewegen.“
       
       XR bezieht sich auf Fakten, aber arbeitet mit Emotionen. Das ist nicht
       esoterisch oder verwerflich, sondern schlau und richtig.
       
       12 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://extinctionrebellion.de/
   DIR [2] https://twitter.com/jutta_ditfurth/status/1180904831566921729
   DIR [3] https://en.wikipedia.org/wiki/Traumatic_bonding
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anke Richter
       
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