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       # taz.de -- „Tanz“ von Florentina Holzinger: Kampf der Körper
       
       > Die neue Inszenierung der Wiener Choreografin Holzinger geht buchstäblich
       > unter die Haut. In ihrem Stück macht sie das Ballett selbst zum Thema.
       
   IMG Bild: Der Traum vom Fliegen hinterlässt Spaltprodukte: Szene aus „Tanz“ von Florentine Holzinger
       
       Das Porträt der Künstlerin mit offenem Rückgrat weist schon mal den Weg.
       Auf dem Plakat für ihr neues Stück „Tanz“, im Untertitel „eine sylphidische
       Träumerei in Stunts“, blickt die in Wien und den Niederlanden arbeitende
       Choreografin Florentina Holzinger über die eigene kalte Schulter, während
       ihr Rücken von einem liebevollen maskenbildnerischen Arrangement aus
       Silikon und Kunstblut bedeckt ist, wie die Untoten im Spätvorstellungskino
       der späten 1970er Jahre. Der Verweis aufs Genrekino ist gewollt, aber nicht
       erschöpfend. Mit dem letzten Schrei und dem stummen Sterben des stereotypen
       weiblichen Opfers ist es in „Tanz“ nicht getan.
       
       In Florentina Holzingers neuem Stück, das am Wiener Tanzquartier
       uraufgeführt wurde, und auf Tour nach München, Frankfurt, Brüssel, Madrid
       und andere europäische Städte geschickt wird, geht es tatsächlich um Tanz.
       
       Um Tanz als einem jener kulturellen Zeichensysteme, dessen bevorzugtes
       Produktionsmittel der weibliche Körper ist, das ihn in einer lebenslangen
       Virtuosenerziehung zum entkörperlichten Ideal umformt. In ihrer
       vorangegangenen Arbeit „Apollon“ hatte sich Holzinger mit einem rein
       weiblichen Ensemble an [1][George Balanchines Choreografie „Apollon
       musagète“] von 1928 abgearbeitet. Der männlichen Allmachtsfantasie eines
       unentwegt von Musen umtanzten Gottes begegnete sie im Denken mit
       analytischer Klarheit, in der Form aber ziemlich dionysisch mit nacktem
       Spott.
       
       „Tanz“ führt in der Balletttradition ein weiteres Jahrhundert zurück und
       landet 1832 im Romantischen Ballett bei der Choreografie „La sylphide“ von
       Filippo Taglioni. Das Ballett hatte sich gerade aus der reinen
       Dienstbarkeit für die anderen Bühnenkünste gelöst und entwickelt vom Tutu
       bis zum Spitzentanz formale Konventionen, die sich bis in die Gegenwart
       bewahren. Beim Versuch, junge Frauen in Feen und Luftwesen zu verwandeln,
       befiehlt Taglioni seine Tochter und Hauptdarstellerin Marie Taglioni, sie
       wurde zur herausragenden Figur des Romantischen Balletts, kurzerhand auf
       die Fußspitze.
       
       ## Dunkle Seite der Romatik
       
       Aber der Traum vom Fliegen, die Himmelfahrt der Feen produziert
       Spaltprodukte, die am Boden zurückbleiben. Die Fabel von „La sylphide“
       bevölkert das schottische Hochland nicht nur mit postgeschlechtlichen
       Waldfeen, sondern auch mit rachsüchtigen Hexen, die am finalen Verderben
       der Geschichte arbeiten.
       
       Die Spur ist gelegt zur dunklen Seite romantischer Subjektivität, die
       Florentina Holzinger bis in die Populärkultur im späten 20. Jahrhundert
       verfolgt, samt Monstergeburten, Zerstückelungs- und Kindstötungsfantasien.
       
       Davor liegt die Arbeit an der Stange, die Ertüchtigung, die Monotonie, die
       beharrlichen kleinen Brechungen, die den Körper dem Ausdruck aufs Wort
       gehorchen lassen. Erst zu viert, dann zu sechst an zwei Stangen. Musik
       bitte!, befiehlt eine sanfte Stimme, die Widerstand noch nicht einmal
       denken lässt. Sie gehört Beatrice Cordua, einer der wirklich Großen des
       Balletts. 1972 löste sie einen Skandal aus, als sie als Solistin in John
       Neumeiers Choreografie von „Le sacre du printemps“ nackt tanzte, den Körper
       während seiner Arbeit an der Produktion des Schönen nicht mehr schamvoll
       verbarg.
       
       Darin lag und liegt die doppelte Verletzung der Konventionen im Umgang
       mit Körperlichkeit. Sie stört die Idee vom entsexualisierten Körper in den
       Praktiken der Hochkultur, frustriert aber ebenso ein den weiblichen Körper
       ungefragt sexualisierendes Blickregime einer „niederen“ Kultur.
       
       Der nackte Körper macht Beatrice Cordua auf der Bühne zur Kronzeugin in
       Holzingers szenischem Tribunal über das Leben und Überleben in dieser
       Virtuosenerziehung, aber auch die Freiheit und die wiedergewonnene
       Subjektivität, die sich aus dem totalen Aufgehen in der Form gewinnen
       lässt. Nach und nach lassen auch ihre Schülerinnen die letzten
       Kleidungsstücke zurück.
       
       Sie rücken zusammen, als ob in der Ballettpraxis ein verborgenes weibliches
       Wissen aufscheinen würde, das im romantischen Setting nur verstellt als
       Unheil bringendes Hexenwesen aufscheinen, dessen Geburt einer
       Spielzeugratte mit viel Kunstblut die Spannerperspektive einer Handkamera
       auf den großen Schirm wirft. Unter Quäken aus dem Off wird eine Babypuppe
       im Hexenkessel ersäuft.
       
       ## Klamauk, Splatter, surreale Szenen
       
       Dann wieder Training, aber auch das kippt ins Surreale merkwürdiger
       Übergriffe, Vaginalinspektionen, Grabschen, Fauchen. Nein, es geht hier
       nicht um #MeToo-Fälle an der Ballettschule, die gehören vors Gericht,
       sondern in einem viel weiteren Maßstab darum, dass die ganze
       Virtuosenpraxis sich einer mittelbaren Form des Übergriffs nähert, ob
       justitiable Vorfälle darin vorkommen oder nicht.
       
       Holzingers Abarbeitungen an den Monumenten der Ballettgeschichte sind nicht
       einfach nur Polemiken gegen eine Barbarei der Kultur, sondern vielmehr der
       Versuch, mit den heute zur Verfügung stehenden theatralen Mitteln sich
       einem fernen Kontinent zu nähern, der einst Schönheit verhieß. Sie nimmt in
       ihrem unvoreingenommenen, archäologischen Herangehen die unerreichten
       Horizonte und die unbeantworteten Fragen der Altvorderen weit mehr ernst,
       als es ihre museale Pflege an den Stadttheatern tut. Als „zeitlos“ gilt,
       was sein Geheimnis noch nicht preisgegeben hat.
       
       Aus dem Baukasten der Methodenvielfalt, die die Postmoderne der Nachwelt
       zurückgelassen hat, bedient sie sich in dramaturgischer Finesse. Klamauk,
       Splatter, surreale Szenen, Innehalten, mehrstimmiger A-capella-Gesang,
       Hochseilübungen an am Schürboden aufgehängten Motocrossmaschinen,
       atemberaubende, aber wohlkalkulierte Stunts machen großes Theater, das auf
       große Bühnen gehört. Holzinger entwickelt eine im besten Sinne
       maximalistische Ästhetik, die die Selbstreferenzialität und die
       spartenpflegende Kleingärtnerei im juste millieu einer gegenwärtige Tanz-
       und Performanceszene weit hinter sich lässt.
       
       Am Ende fliegen sie doch, die Sylphiden, zumindest eine von ihnen. Nicht an
       Feenflügeln, sondern an Haken, die sich unter die Haut in das Bindegewebe
       im Rücken einer Artistin graben. Dieser Augenblick tut weh, aber was ist er
       gegen die Schmerzen eines ganzen Ballerinenlebens?
       
       Die Nacktheit, der Körpereinsatz, die Grenzüberschreitungen in der Kunst
       von Florentina Holziger sind weniger Akte der Verwegenheit als vielmehr der
       notwendige Einbruch in ein Zeichensystem, in ein Blickregime, an dessen
       Produktion von Wahrheit und Identität begründete Zweifel bestehen. Haben
       die Sylphiden ein Geschlecht?
       
       13 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Impulstanz-Festival-in-Wien/!5524184
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
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