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       # taz.de -- Pflege-TÜV für Einrichtungen: Lauter Vorzeigeheime
       
       > Gesundheitsminister Spahn will mehr Ehrlichkeit und Transparenz in der
       > Pflege. Leider ist sein TÜV eher eine Kapitulation vor dem
       > Fachkräftemangel.
       
   IMG Bild: Wie gut Patient*innen in Heimen tatsächlich versorgt sind, ist schwer zu ermitteln
       
       Helles Haus, Parkanlage, Fernseher im Gemeinschaftsraum. Der Friseur im
       Haus und täglich Bewegungskurse, Singen, Spielerunden. Dazu ein
       Bewohner*innenbeirat und freundliche, kompetente, empathische Pflegekräfte.
       Und bezahlbar ist ein Platz auch noch. So oder ähnlich werben
       Pflegeeinrichtungen häufig für sich. Kein Wunder, dass der „Pflegelotse“,
       [1][ein Internetportal] des Verbands der Ersatzkassen, Pflegeeinrichtungen
       häufig mit Topnoten von 1,0 bis 1,2 bewertet. Wer möchte seine alte Mutter
       oder seinen gebrechlichen Vater nicht in einem solchen Superheim
       unterbringen?
       
       Nur: Der Schein kann trügen. Da entpuppt sich die postulierte
       Profieinrichtung als Arbeitsplatz chronisch überarbeiteter Pfleger*innen,
       die Bewohner*innen nach dem Mittagsschlaf schon mal im Bett „vergessen“. Da
       stinkt es auf den Fluren nach Urin, Häuser sind unsaniert und schmutzig.
       Nicht selten liegen Hilfebedürftige stundenlang in vollen Windeln,
       Schlaganfallgeschädigte werden im Rollstuhl in eine Ecke geschoben, im
       Winter auch ohne Decke über den Beinen. Wie kann es sein, dass auch solche
       Pflegeheime bestens benotet werden?
       
       Ganz einfach: Weil sie sich größtenteils selbst einschätzen und auch
       unabhängige Kontrollinstanzen wie der Medizinische Dienst der Krankenkassen
       (MDK) sich in ihren Bewertungen auf die Dokumentation der Häuser stützen.
       Doch damit soll jetzt Schluss sein. Seit Oktober gilt [2][der sogenannte
       Pflege-TÜV]. Der schreibt vor, dass die rund 13.000 Pflegeheime nach einem
       strengeren System begutachtet werden sollen. Dabei geht es um Fragen wie:
       Wie beweglich sind die Bewohner*innen in den Heimen? Stimmt die
       Einschätzung des MDK mit den Unterlagen des Heims überein? Bekommen die
       Patient*innen genug und gut zu essen und zu trinken? Beschäftigen sich
       Pflegekräfte ausreichend mit ihnen?
       
       Eigentlich sollte das längst Standard sein. Aber in Deutschland fehlen seit
       Jahren Pflegekräfte, vor allem examinierte. Der Bundesagentur für Arbeit
       zufolge stehen aktuell 100 freien Stellen etwa 40 Arbeitslose gegenüber.
       Vor zwei Jahren kamen auf 14.600 Arbeitsangebote gerade mal 3.000
       Arbeitssuchende. Die Folge ist der allseits beklagte Pflegenotstand. Und
       der bringt die Einrichtungen verständlicherweise in Bedrängnis. Aber das
       darf nicht dazu führen, ein Haus attraktiver zu beschreiben, als es ist,
       Pflegekräfte als hervorragend zu loben, die es nicht sind, und Noten zu
       verteilen, die komplett ungerechtfertigt sind.
       
       ## Spahn kann es auch diesmal nicht reißen
       
       Solche Betrügereien soll der Pflege-TÜV beenden. Zu Recht bezeichnet
       CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn das bisherige Bewertungssystem als
       „Farce“. Denn wo Qualität vorgegaukelt wird, leiden Glaubwürdigkeit und
       Vertrauen. Das geht vor allem zulasten der Betreuung. Doch wie so häufig in
       den vergangenen Jahren kann Spahn es auch diesmal nicht reißen. Statt das
       Pflegesystem grundsätzlich zu reformieren, erscheint sein Pflege-TÜV wie
       eine botoxarme Schönheits-OP. So sollen Heime etwa bei ihren Bewohner*innen
       „interne Qualitätsdaten“ erheben.
       
       Übersetzt heißt das: Das Pflegepersonal fragt die Pflegebedürftigen, wie
       wohl sie sich im Haus fühlen, ob ihnen das Essen schmeckt, ob sie das Heim
       sauber genug finden. Fragen, die man stellen kann – und muss. Was aber
       glaubt der Gesundheitsminister, wie Alte und Kranke antworten werden? Etwa
       so: Ich werde nur einmal in der Woche gebadet, in den vergangenen Nächten
       wurde ich im Bett nicht umgedreht, jetzt habe ich einen wunden Rücken. Die
       Kartoffeln sind meist zu hart und die Stationschefin ist unfreundlich.
       
       So viel Ehrlichkeit dürfte selten vorkommen. Welche Heimbewohner*innen
       werden das Haus, auf das sie bis an ihr Lebensende angewiesen sind, offen
       kritisieren? Sie sind nicht nur abhängig vom Fachwissen des
       Pflegepersonals, sondern vor allem von dessen Gunst. Mitunter sind die
       Pfleger*innen die einzigen verbliebenen Bezugspersonen. Dann gilt der
       Grundsatz: Wer freundlich ist und die Einrichtung lobt, wird zuvorkommend
       behandelt. Wer aufmuckt, wird schon sehen, was er davon hat. Warum sollte
       es in einem Pflegeheim anders zugehen als in der Welt draußen?
       
       Fairerweise sollte erwähnt sein, dass nicht jedes Pflegeheim eine
       geriatrische Hölle ist. Viele Einrichtungen arbeiten vorbildlich und haben
       tatsächlich gute Noten verdient. Aber bei der Pflege ist infolge des
       Pflegenotstand vieles möglich, was woanders längst verboten wäre.
       Abrechnungen sind intransparent, in jüngster Zeit flogen viele Heime wegen
       Betrug und Abzocke auf.
       
       ## Größtes gesellschaftliches Akutproblem
       
       Ebenso muss fairerweise gesagt sein, dass der neue Pflege-TÜV auch
       unabhängige Bewertungen durch den MDK vorschreibt. Die Kontrollinstanz soll
       unangekündigt Kontrollen durchführen und „Interviews“ mit zufällig
       ausgewählten Pflegebedürftigen machen können. Was aber, wenn die Frau, die
       befragt werden soll, wegen einer Aphasie gar nicht mehr sprechen kann? Oder
       wenn Heimmitarbeiter*innen bei den Interviews dabei sein wollen? Wer gibt
       dann schon offen Auskunft? Ähnliches gilt für die Fragerunden des MDK mit
       dem Pflegepersonal, die der Pflege-TÜV ebenso vorsieht. Welche Untergebenen
       schwärzen schon ihre Arbeitgeber*innen an? Kurz: Der neue Pflege-TÜV klingt
       eher nach Kapitulation als nach einer Lösung.
       
       Zugegeben, Pflege ist – neben dem Klimawandel – das größte
       gesellschaftliche Akutproblem. Über 3,4 Millionen Pflegebedürftige gibt es
       derzeit, den Prognosen des Pflegereports zufolge könnten es 2030 knapp 4
       Millionen sein. Demgegenüber steht der weiter wachsende [3][Bedarf an
       Pflegekräften]. Warum diese fehlen, ist bekannt: unzureichende Bezahlung,
       ungenügendes soziales Image, harte Arbeitsbedingungen, früher körperlicher
       Verschleiß. Die Pflege braucht keinen neuen TÜV, sondern – um im Klima-Bild
       zu bleiben – eine Extinction Rebellion. Ansonsten droht der Kollaps.
       
       14 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.pflegelotse.de/presentation/pl_startseite.aspx
   DIR [2] /Pflege-TUeV-in-Deutschland/!5021524
   DIR [3] /Fachkraeftemangel-in-Deutschland/!5627844
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
       ## TAGS
       
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       Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin. Sie bleibt, wo andere gehen: im
       Pflegeberuf. In Würde altern wird aufgrund des Pflegenotstands immer
       schwieriger.
       
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       Medizin dosieren, Wasser bringen, einsalben, anziehen, Arbeit dokumentieren
       – und reden. Aber schnell, denn die Zeit für Matthias Bauerkamp rast.