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       # taz.de -- Behörden und Rechtsextremismus: Doppelt blinder Fleck
       
       > Nach dem Anschlag von Halle ermittelten Journalisten schneller als die
       > Behörden. Sind die hilflos oder ignorant, wenn es um rechten Terror geht?
       
   IMG Bild: Blumen und Kerzen stehen neben einer Mauer der Synagoge in Halle
       
       Journalisten waren schneller als die Polizei, und dafür mussten sie sich
       noch nicht mal besonders beeilen: [1][In der Sendung Frontal21 strahlte das
       ZDF am Dienstag ein Interview mit einem Letten aus], der bis vergangene
       Woche ein Internetforum mit rechtsextremen Inhalten betrieb. In diesem
       Forum war auch der Halle-Attentäter Stephan B. aktiv.
       
       Der Täter hatte seine Tat dort angekündigt und auf den Livestream des
       Attentats verlinkt. Die Polizei, so der Lette, interessierte sich dennoch
       nicht sonderlich für das Forum. Ermittlungsbehörden hätten sich bis zum
       Zeitpunkt des Interview noch nicht bei ihm gemeldet. Das Forum, die Posts
       des Attentäters und alle dessen Daten habe er zwei Tage nach dem Anschlag
       selbst gelöscht.
       
       Blöd gelaufen: Hätten die Ermittler rechtzeitig in Riga angerufen, hätten
       sie möglicherweise Spuren des Attentäters sichern können, die jetzt
       verloren sind. Gleichzeitig hätten sie dafür gesorgt, dass seine Posts
       nicht mehr öffentlich abrufbar sind – aus Respekt vor den Opfern und zum
       Schutz vor Nachahmern. Dass sie den Anruf unterlassen haben, ist kein
       Zufall. Die Boards und Foren der rechtsextremen Onlinesubkultur mit ihren
       Bildchen, Witzchen und Hassparolen sind für die Sicherheitsbehörden eben
       ein blinder Fleck. Genaugenommen: ein doppelter blinder Fleck.
       
       Dass die Behörden die Gefahr rechtsextremer Gewalt unterschätzen, galt
       lange als linke Paranoia. Nach Halle scheint aber sogar bei den
       Verantwortlichen angekommen sein, dass an den Warnungen etwas dran war.
       Selbst das BKA [2][fragt sich mittlerweile], warum es zwar hunderte
       islamistische Gefährder auf dem Schirm hat, aber nur ein paar Dutzend
       rechtsextreme.
       
       ## Einfacher in der Kneipe
       
       Ganz abwegig ist es da nicht, zu vermuten, dass sich die Ermittler einem
       islamistischen Forum nach einem islamistischen Anschlag schneller gewidmet
       hätten als einem rechtsextremen Forum nach dem Halle-Anschlag.
       
       Dazu kommt, dass die Behörden bestimmte Bereiche des Internets offenbar
       weniger stark im Blick haben als analoge Räume. Hätte sich Stephan B. nicht
       online radikalisiert, sondern in einer Kneipe, hätte er dort seine Tat per
       Aushang angekündigt und Bauanleitungen für Waffen verteilt – schwer
       vorstellbar, dass die Polizei den Wirt nicht früher oder später aufgesucht
       hätte.
       
       [3][Als im Juli im hessischen Wächtersbach ein Rechtsextremer aus
       rassistischen Motiven einen Mann anschoss] und in seiner Stammkneipe damit
       prahlte, schauten die Beamten selbstverständlich dort vorbei.
       
       Doch nach Halle könnte etwas passieren. Der Verfassungsschutz spricht nun
       von internationalen Netzwerken, in denen sich neue Tätertypen herausbilden.
       Meint man es sehr gut mit Innenminister Seehofer, dann kann man ihm
       unterstellen, dass er mit seiner pauschalen Schelte gegen Gamer eigentlich
       das Richtige meinte – dass nämlich seine Leute diese rechtsextremen
       Plattformen, Boards und Unterforen genauer anschauen müssen.
       
       ## Zu spät, ganz nah
       
       Zu spät kommt das alles trotzdem. Die Attentäter von Christchurch, Poway
       und El Paso stammten offenbar aus einem ähnlichen Onlinemilieu wie Stephan
       B.
       
       Und auch in Deutschland gab es einen Vorgänger: David Sonboly, der
       Jugendliche, der 2016 im Münchner Olympiaeinkaufszentren aus rassistischen
       Motiven neun Menschen tötete. Radikalisiert hatte auch er sich im Internet
       im Umfeld rechtsextremer Gamer. Lange wehrten sich Teile von Politik und
       Sicherheitsbehörden dagegen, den politischen Charakter der Tat
       anzuerkennen. Die Chance, Konsequenzen zu ziehen, haben sie so verpasst. In
       Halle hat sich das gerächt.
       
       16 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zdf.de/politik/frontal-21/neue-spuren-vom-halle-attentaeter-100.html
   DIR [2] /Rechtsextreme-Gefaehrder/!5630236
   DIR [3] /Rassistische-Tat-in-Waechtersbach/!5613094/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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