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       # taz.de -- Katarina Barley über Corona und Orban: „Propagandafeldzug gegen die EU“
       
       > Viele Grenzen in Europa sind wegen Corona dicht – die EU wirkt hilflos.
       > SPD-Politikerin Katarina Barley fordert: Brüssel braucht mehr
       > Kompetenzen.
       
   IMG Bild: „Das Einzige, was Orban abschreckt, sind klare Signale der EU.“ SPD-Politikerin Katarina Barley
       
       taz: Frau Barley, wo sind Sie? 
       
       Katarina Barley: Zu Hause in Trier.
       
       Arbeitet das europäische Parlament noch? 
       
       Ja, unter eingeschränkten Bedingungen. Es fehlt die persönliche Begegnung.
       Die ist im Europäischen Parlament noch wichtiger als im Bundestag, weil
       hier verschiedene Mentalitäten und Empfindlichkeiten aufeinander treffen.
       Dafür sind direkte Gespräche besser geeignet als Video-Konferenzen.
       
       Es gibt keine Debatte im Europäischen Parlament über den
       [1][Demokratieabbau in Ungarn]... 
       
       Das wird diese Woche Thema einer virtuellen Sitzung der entsprechenden
       Arbeitsgruppe sein, der ich angehöre. Es ist allerdings nicht immer leicht,
       Ungarn im Parlament zur Sprache zu bringen. Orbans Partei ist ja noch immer
       Teil der christdemokratischen Fraktion. Im politischen Raum nutzt sich die
       Kritik an Polen und Ungarn ab. Dafür ist das Thema in Medien präsenter. Wir
       brauchen diesen öffentlichen Druck.
       
       Orban hat ein Notstandsregierung ohne parlamentarische Kontrolle und
       zeitliche Begrenzung etabliert. Was tut die EU? 
       
       Das Parlament kann nur appellieren und verurteilen. Die Kommission hingegen
       kann den Europäischen Gerichtshof anrufen. Dieser könnte wiederum per
       einstweiliger Anordnung die ungarischen Maßnahmen außer Kraft setzen.
       Darauf arbeite ich hin.
       
       Allerdings haben wir auch schon bei der jüngsten polnischen Justizreform
       versucht, die Kommission zu entschiedenem Handeln zu bewegen – bisher ohne
       Erfolg. Ungarn und Polen schützen sich gegenseitig vor Sanktionen nach
       Artikel 7, die Einstimmigkeit erfordern. Wir arbeiten an finanziellen
       Sanktionen bei Verstößen gegen Werte der EU. Aber auch das versuchen
       osteuropäische Staaten, vor allem Orban und die PIS, zu erschweren. Wir
       haben [2][zu wenig Möglichkeiten.]
       
       Ist die EU hilflos? 
       
       Das müsste sie nicht sein. Das Einzige, was Orban abschreckt, sind klare
       Signale der EU, etwa vom Europäischen Gerichtshof. Der ist aktuell das
       schärfste Schwert der EU. Die EU hätte im Fall Ungarn früher handeln
       müssen. Das ist auch am Widerstand der Konservativen gescheitert.
       
       Was ist das Gefährlichste derzeit? 
       
       Dass Ungarn und Polen, wo die PIS gerade ein verfassungswidriges Wahlgesetz
       durchgedrückt hat, Vorbilder für andere Länder werden. Diesen Effekt darf
       man nicht unterschätzen. Wenn immer mehr Länder von Rechten und
       Nationalisten regiert werden, wird das für die EU ein echtes Problem.
       
       Sind Polen und Ungarn undemokratische Staaten? 
       
       Sie sind auf dem Weg dorthin. In Ungarn kontrolliert Orban die Justiz, es
       gibt keine unabhängige freie Medienlandschaft. Wenn in Polen die
       Präsidentin des Obersten Gerichtshofs geht und ein PIS naher Nachfolger
       kommt, fällt die letzte Bastion der Gewaltenteilung in Polen.
       
       Haben wir es also mit dauerhaft undemokratischen Regimen zu tun – oder mit
       einer autoritären Phase in Ostmitteleuropa, auf die Westeuropa
       verständnisvoller schauen sollte? 
       
       Polen ist freiheitsliebend, wie sich 1989 gezeigt hat, und die Bevölkerung
       in Ostmitteleuropa schon immer proeuropäisch. Aber dass Orban ein Wahlrecht
       geschaffen hat, bei dem auch deutlich weniger als 50 Prozent reichen, um zu
       regieren, ist ein Schritt zur dauerhaften Machtsicherung.
       
       Von der Leyen ist mit den Stimmen von Ungarn und Polen ins Amt gewählt
       worden. Ist sie deshalb so vorsichtig bei Maßnahmen gegen die beiden
       Länder? 
       
       Das macht es jedenfalls nicht leichter.
       
       Ex-EU-Kommissionspräsident Jacques Delors hält den nationalen Egoismus in
       der [3][Coronakrise] für „eine tödliche Gefahr für die EU“. Ist die
       Existenz der EU in Gefahr? 
       
       So weit würde ich nicht gehen. Die EU hat in den entscheidenden Bereichen –
       Gesundheit, innere Sicherheit und Sozialversicherungssystem- keine
       Kompetenzen. Man kann von der EU nicht verlangen, was sie gar nicht darf,
       etwa Krankenversorgung zentral zu organisieren. Jene, die jetzt sagen, die
       EU tauge nichts, sind genau die, die sonst verhindern wollen, dass die EU
       mehr tun darf. Das ist bigott. Diese Haltung nehme ich leider besonders in
       den sozialen Netzwerken wahr.
       
       Auch CSU-Mann Markus Söder kritisiert, dass es aus Brüssel nichts kommt... 
       
       Söder folgt ebenfalls diesem Muster: Wenn etwas gut funktioniert, hat man
       es selbst gemacht. Wenn es schief geht, sind die in Brüssel schuld. Dieser
       Mechanismus ist nicht neu. Das ist eine Erzählung, die nicht nur in Ungarn
       und Polen gepflegt wird.
       
       Fast alle Staaten haben ihre Grenzen geschlossen. Es gab sogar
       Exportverbote für medizinische Güter innerhalb der EU. Wenn es ernst wird,
       ist die Solidarität national, und die EU spielt keine Rolle. 
       
       Ja, weil die Staaten zuständig sind, nicht die EU. Ich habe die Sorge, dass
       dieses Bild benutzt wird, um die EU zu diskreditieren. Es gibt ja den Spin:
       Russland, China, Kuba helfen, nur die EU ist unfähig. So ist es nicht. Die
       EU hat anfangs China unterstützt, danach war es andersherum. Es gibt einen
       Propagandafeldzug gegen die EU, angefacht von Kräften, die eine schwache EU
       wollen. Ein Problem sind zudem manche Bilder. Wenn ein italienischer
       Bürgermeister eine EU-Fahne verbrennt, ist das Bild in allen Medien. Wenn
       das Saarland und Rheinland-Pfalz Patienten aus dem Elsass aufnehmen, ist es
       eine Kurzmeldung.
       
       Die Schwäche der EU ist doch real, und keine Propaganda... 
       
       Auch. Die Hilfe hätte früher beginnen müssen. Die Kommission hätte die
       Grenzregime der Staaten früher koordinieren müssen. Wir haben viel Zeit
       verloren. Daraus müssen wir lernen.
       
       Was? 
       
       Bei einer Pandemie muss das medizinische Erforderliche auf EU-Ebene
       koordiniert werden. Vorstellbar ist eine Zentrale, die zum Beispiel
       Patienten auf Länder verteilt oder Material dahin bringt, wo es am
       dringendsten benötigt wird. Bei grenzüberschreitenden Katastrophen muss
       auch europäisch gehandelt werden. Darüber sollten wir ohne ideologische
       Scheuklappen nachdenken.
       
       Und dafür wird es Mehrheiten geben? 
       
       Ja, für grenzüberschreitende Notfälle. Kann sein, dass jetzt kein so
       günstiger Zeitpunkt ist, um für mehr Kompetenzen für Europa zu werben. Aber
       wir brauchen sie.
       
       Merkel hat in ihren Reden Europa mit keinem Wort erwähnt. War das falsch? 
       
       Ja, das war falsch. Aber damit ist sie in Europa wirklich nicht alleine.
       Wir müssen aufpassen, dass am Ende dieser Krise nicht die Antieuropäer und
       Nationalisten profitieren.
       
       Ein Prüfstein für europäische Solidarität sind die Corona-Bonds, gemeinsame
       Anleihen, mit denen de facto starke Staaten schwächere unterstützen.
       Italien und Frankreich wollen sie, Deutschland nicht. Und Sie? 
       
       Erstmal: Wir haben aus der Finanzkrise gelernt, dass wir Staaten in
       Notlagen schnell unterstützen müssen. Die EU hat die Maastrichter
       Schuldenkriterien für coronabedingte Ausgaben aufgehoben. Die EZB hat 750
       Milliarden für den Kauf von Staatsanleihen bereitgestellt. Mir scheint
       jetzt der ESM, der europäische Stabilitätsmechanismus, das zuvorderst
       geeignete Mittel zu sein.
       
       Warum? 
       
       Im ESM sind 410 Milliarden Euro schnell und ohne lange Diskussionen unter
       den Mitgliedsstaaten verfügbar. Allerdings sind ESM-Kredite derzeit an
       Bedingungen geknüpft. Die sollten die Staats- und Regierungschefs fallen
       lassen und durch eine einzige ersetzen: Es müssen durch Corona bedingte
       Ausgaben sein.
       
       Staaten, die ESM-Kredite in Anspruch nehmen, gelten auf den Finanzmärkten
       später nur noch als bedingt sicher und müssen höhere Zinsen zahlen. 
       
       Ja, das gilt es zu bedenken. Aber 410 Milliarden Euro sind erstmal viel.
       Natürlich müssen wir auch über Mittel für den möglichen Fall nachdenken,
       dass das nicht ausreicht und ganze Länder an den Märkten kein Geld zu
       vernünftigen Bedingungen bekommen. Dazu gehören auch neue Instrumente, wie
       gemeinsame europäische Anleihen. Dafür brauchen wir jetzt einen konkreten
       Vorschlag der Kommission – Ursula von der Leyen hat ja als erste den
       Begriff Coronabonds gesetzt.
       
       Es gibt zwei Unterschiede zu der Finanzkrise nach 2008. Der Auslöser der
       Krise ist ein Virus, kein überschuldeter Haushalt. Und auch neoliberale
       Ökonomen, die damals strikt gegen Eurobonds waren, sind für Coronabonds.
       Wird Deutschland das Nein zu Coronabonds durchhalten? 
       
       Ich glaube: Deutschland hat verstanden, dass es nicht so laufen kann wie
       nach 2009. Dass Spanien und Italien so schwer von dem Virus betroffen sind,
       ist auch eine Folge der Schuldenkrise. Bei den Gesundheitssystemen wurde
       gespart. Das rächt sich nun. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit sorgt für ein
       engeres Zusammenleben der Generationen – auch das ist ein Nachteil. Egal,
       wie die Instrumente nachher heißen: Wir müssen dafür sorgen, dass diese
       Länder zinsgünstig an Geld kommen. Die Folgen von 2009 dürfen sich nicht
       wiederholen.
       
       2 Apr 2020
       
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