URI: 
       # taz.de -- Politische Justiz in Russland: Ein Jahr auf Bewährung für nichts
       
       > Unter öffentlichem Druck mildert die russische Justiz das Urteil gegen
       > Pawel Ustinow ab. Er war beschuldigt worden, Polizisten angegriffen zu
       > haben.
       
   IMG Bild: Muss dank öffentlichem Druck doch nicht ins Straflager: der russische Schauspieler Pawel Ustinow
       
       Moskau taz | Das Moskauer Stadtgericht hat am Montag nach zweistündiger
       Berufungsverhandlung die Strafe gegen den Schauspieler [1][Pawel Ustinow]
       korrigiert. Ein Jahr auf Bewährung erhielt der 23-jährige Mann wegen
       Widerstands gegen die Staatsgewalt und Verletzung des Nationalgardisten
       Alexander Ljagin. Der behauptet, er sei von Ustinow an der Schulter
       verletzt worden. In erster Instanz hatte ein Moskauer Gericht Ustinow zu
       dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft forderte
       ursprünglich gar sechs Jahre Freiheitsentzug.
       
       Eigentlich wollte Ustinow einen Freispruch erreichen, da er mit der
       Demonstration, an deren Rande er festgenommen worden war, nichts zu tun
       gehabt hätte. Staatsanwaltschaft, Gericht und Nationalgarde waren jedoch
       zur völligen Kapitulation vor dem vermeintlichen Straftäter nicht bereit.
       Das neue Strafmaß – ein Jahr auf Bewährung – erspart nun Justiz und
       Sicherheitskräften einen Gesichtsverlust.
       
       Als das erste, drakonische Urteil vor zwei Wochen fiel, kursierten parallel
       dazu zwei Videos von der Festnahme Ustinows, die der Richter in der ersten
       Instanz nicht zulassen wollte. Die Aufnahmen belegen, dass der junge Mann
       von hinten beim Telefonieren überrumpelt und zu Boden geworfen wurde.
       Tatverschärfend soll er noch aufrührerische Losungen gerufen haben,
       behauptet der angeblich in Mitleidenschaft gezogene Sicherheitsbeamte. Auf
       den Videos ließen sich unterdessen keine aufwieglerischen Tonaufnahmen
       finden.
       
       Als das publik wurde, [2][reagierte die Zivilgesellschaft solidarisch] –
       wie auf Kommando. Schauspieler hielten Mahnwachen vor der
       Präsidialadministration, Lehrer meldeten sich zu Wort, Ärzte und Priester
       protestierten und Menschenrechtler schalteten sich ein. Am Ende wollten
       sogar verdiente Kader der Kremlpartei nicht am Rande stehen und beklagten
       die Härte des Urteils.
       
       ## Justiz und Staatsapparat sind perplex
       
       Die Zivilgesellschaft feierte dies als Erfolg. Ähnlich wie im Juni, als der
       Investigativjournalist Iwan Golunow wegen vermeintlichen Drogenbesitzes aus
       dem Verkehr gezogen werden sollte. Breite Proteste und Aktionen der
       journalistischen Gemeinde in Moskau sorgten dafür, dass Golunow sich am
       fünften Tag wieder auf freiem Fuß befand. Selbst die Staatsanwaltschaft,
       die zunächst sechs Jahre gefordert hatte, stimmte diesmal in den Chor mit
       ein, die Strafe für Pawel Ustinow sei zu hart gewesen.
       
       Justiz und Staatsapparat waren es bisher nicht gewohnt, dass ihnen in
       Entscheidungen hineingeredet wurde. Das ist neu. Auch dass die
       Demonstranten weniger Angst haben, fällt auf. Ebenso die Entschlossenheit,
       sich nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen.
       
       Pawel Ustinow behauptete noch nach der Festnahme, er sei weder ein
       politischer Mensch noch hätte er von den Manipulationen rund um die
       Moskauer Stadtwahlen etwas gewusst.
       
       Massiver Widerstand und Proteste pressten ihn frei. Das hat ihn auch neu
       justiert. Bis vor Kurzem diente Ustinow selbst als Soldat in der
       „Rosgwardija“, der russischen Nationalgarde, die ihn jetzt verprügelte und
       festnahm.
       
       ## Ein verwandelter Mann
       
       Inzwischen nimmt Ustinow an Einmannmahnwachen vor der
       Präsidialadministration in Moskau teil. Diese Wachen müssen nicht gemeldet
       werden. Auf einem Video versichert er Mitverurteilte und in den
       Gefängnissen Einsitzende seiner Solidarität. Die Erfahrungen mit der Justiz
       haben ihn binnen zwei Wochen verwandelt.
       
       Sechs Teilnehmer an den jüngsten Protestdemonstrationen sind bislang zu
       Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt worden. Soweit bekannt ist, wird in
       zehn Fällen noch ermittelt.
       
       1 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Russische-Justiz-lenkt-ein/!5624745
   DIR [2] /Proteste-in-Russlands-Hauptstadt/!5630668
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
       ## TAGS
       
   DIR Russland
   DIR Einiges Russland
   DIR Politische Justiz
   DIR Russische Opposition
   DIR Drogen
   DIR Russland
   DIR Ukraine-Konflikt
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Sibirien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Justiz in Russland: „Geschenk des Schicksals“
       
       Eine Israelin muss wegen ein paar Gramm Gras sieben Jahren in Haft. Das
       könnte der Schlüssel zu einem anderen Fall sein.
       
   DIR Russischer Youtuber: Kritischer Geschichtsunterricht
       
       Ganz ohne Kreml-Propaganda: Millionenreichweiten erzielt Jurij Dud mit
       Reportagen über Stalins Gulag, aber auch über jüngere russische Geschichte.
       
   DIR Oppositionelle Medien in der Ukraine: Aus für russlandfreundliches TV
       
       Dem ukrainischen TV-Sender 112 wird die Sendelizenz entzogen.
       Gewerkschafter kritisieren den Vorgang als Zensur, andere begrüßen ihn.
       
   DIR Empfang für Oleg Senzow in Berlin: Gegen die Propaganda-Armee
       
       Anfang September ist Oleg Senzow aus russischer Haft freigekommen. Nun lud
       die ukrainische Botschaft seine Unterstützer zu einem Treffen mit ihm.
       
   DIR Kulturaustausch in Nowosibirsk: Sibirischer Garagenblues
       
       Interesse für Kunst wecken, die lokale Szene stärken: Das Goethe-Institut
       holte die Idee des Berliner Kunstfestivals „48h Neukölln“ nach Nowosibirsk.