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       # taz.de -- Kritische Schnitzelanalyse: Der Deutschen liebste Mehlspeise
       
       > Ums Fleisch geht es bei einem Schnitzel hierzulande am allerwenigsten.
       > Wir sollten nach Osten schauen: Von Japan lernen heißt panieren lernen.
       
   IMG Bild: Ist da überhaupt Fleisch drin?
       
       Es gibt einige Erklärungen über die Herausbildung regionaler
       Küchentraditionen. Die knappste stammt von Heinz Bösel. Er vertritt die
       Theorie, dass das Essen stark mit der Landschaft in Verbindung stehe. „Dort
       wo sie eher karg ist, gibt es viel Gegrilltes. Bei uns ist die Landschaft
       etwas üppiger, deswegen die vielen Mehlspeisen.“
       
       Heinz Bösel ist Österreicher, Schnitzelinspektor und eine Figur aus
       „Indien“, einem Roadmovie, das Anfang der 1990er herauskam. Bösel und sein
       Kollege Kurt Fellner, gespielt von den [1][Kabarettisten Josef Hader] und
       Alfred Dorfer, reisen im Auftrag des Fremdenverkehrsamtes durch die
       niederösterreichische Provinz und überprüfen Gasthäuser. Der eine ist ein
       misanthropischer Gemütsmensch (Bösel), der andere ein hypochondrischer
       Ehrgeizling (Fellner). Zwischen beiden entwickelt sich eine
       Männerfreundschaft, die am Schluss selbst der Intensivstation standhält.
       
       „Indien“ wurde seinerzeit zu einem Kultfilm in Deutschland. Er war auch ein
       wichtiger Beitrag zur Allgemeinbildung über die österreichische Küche. Er
       half immens bei der Verbreitung der Kunde, dass das Original Wiener
       Schnitzel „koibarn“ sein muss, wie Bösel sagt, also vom Kalb. Ein paniertes
       Schweineschnitzel dagegen darf sich nur Schnitzel Wiener Art nennen. Dass
       das die inzwischen bräuchliche „Verkehrsauffassung“ auch in Deutschland
       ist, darüber wurde sogar gerichtlich befunden, 2009 vom Verwaltungsgericht
       Arnsberg.
       
       Aber egal, welches Fleisch auch immer unter der Kruste steckt: Das
       Schnitzel bleibt unangefochten das Topgericht – der deutschen
       Mehlspeisenküche. Was ich damit meine, versinnbildlicht folgende
       Restaurantszene, die ich nicht nur einmal erlebt habe. Da sitzt ein Kind
       vor einem den Tellerrand überlappenden Schnitzel, seziert mit Konzentration
       die Kruste, isst sie mit Genuss auf, zeigt schließlich der Mutter den
       Teller, auf dem nur noch ein unappetitlicher dünner Lappen liegt, und
       fragt: „Willst du das?“
       
       ## Ein pappdeckelgrauer Strich
       
       In der deutschen Schnitzelküche wird dem, was dem Schnitzel seinen Namen
       gibt – dem inneren Wert, einem dünnen Stück mageren Fleisch – am wenigsten
       Aufmerksamkeit zugedacht. Es geht allein um die Umhüllung. Deshalb
       Mehlspeise. Das Fleisch wird bis zur Carpaccio-Dünne geklopft und
       plattiert, bevor es in Mehl, Ei und Unmengen von Semmelbröseln gewendet
       wird. Schneidet man das Schnitzel, enthüllt sich das Kalbfleisch als
       pappdeckelgrauer Strich, ein totes ledriges Etwas, das man am liebsten in
       die Küche zurückgehen lassen möchte, meist aber als Kollateralübel mit
       hinunterkaut.
       
       Aber nicht nur wegen der Kruste sage ich Mehlspeise. Es gibt noch eine
       weitere Dimension. Denn während man in Wien nur das schlichte Wiener
       Schnitzel serviert und höchstens Zitrone, Sardelle und Preiselbeermarmelade
       dazu reicht, hat sich in Deutschland ein ganzes Genre rund ums Schnitzel
       etabliert. Klassischerweise findet man auf deutschen Speisekarten
       entsprechender Etablissements folgende Variationen: Schnitzel mit
       Jägersauce (mit Dosenchampignons), Berliner Schnitzel (mit Zwiebelsauce),
       auf Balkan-Art (mit Letscho oder Paprikasauce) oder Schnitzel mit Pfeffer-
       oder Bratensauce. Grundlage solcher Tunken ist meist – die klassische
       Mehlschwitze.
       
       Die Frage, die sich nun stellt, ist natürlich: Warum überhaupt sollte man
       Fleisch panieren? Zum einen aus kochtechnischen Gründen, nämlich um das
       Schnitzel davor zu schützen, in der Pfanne auszutrocknen. Denn dazu neigt
       vor allem mageres Fleisch sehr schnell. Also versiegelt man es mit Ei und
       Brotkrumen. Sie bilden eine ähnliche Hülle wie der Salzmantel oder die
       Tasche aus Backpapier in der Fischküche. Alle haben dieselbe Aufgabe: das
       Gericht saftig zu halten. Beim Schnitzel schmeckt der Mantel auch noch gut.
       
       Gleichzeitig ist [2][Fleisch in Brot zu wickeln] weltweit eine verbreitete
       und beliebte Kulturtechnik. Ein Stück Fleisch zu panieren, ist nur etwas
       raffinierter. Ein Verfahren, das die Fleischstulle vom Imbiss und
       Abendbrottisch in die Welt des Restaurants überführt. Insoweit lassen sich
       Wurstbrot, Hamburger und das Wiener Schnitzel gleichsetzen, mit dem
       hauptsächlichen Unterschied, dass der Fleischanteil der Erstgenannten viel
       höher ist.
       
       ## In Japan steht das Fleisch im Mittelpunkt
       
       Fleisch zu panieren, das hat auch [3][in der japanischen Küche] eine große
       Kultur. Bei jedem Gericht, das den Bestandteil Katsu im Namen trägt, hat
       man dort ein Schnitzel auf dem Teller. Tonkatsu ist ein Schweineschnitzel,
       Torikatsu wird mit Hühnchen zubereitet, hat man Gyukatsu bestellt, steckt
       unter der Panierung Rind oder Kalb. Doch begegnet einem hier eine völlig
       andere Sicht auf das Gericht, nämlich die Perspektive auf das Fleisch.
       
       Es gibt deswegen drei große Unterschiede bei der Zubereitung. Das fängt
       beim Paniermehl an, das in Japan Panko heißt. Während hierzulande viele
       Kochbücher dazu raten, Semmelbrösel selbst aus altem Brot herzustellen,
       gern mit der Rinde und auch dunkles, rösches Landbrot zu verwenden, wird
       Panko nur aus der trockenen Krume von Weißbrot zubereitet, ist also ganz
       hell und im Vergleich völlig geschmacklos.
       
       Dann wird das Fleisch in Japan nicht geklopft oder andersartig behauen.
       Dieses Verfahren zerstört die Struktur, was dazu führt, dass das Fleisch
       noch schneller austrocknet. Ganz im Gegenteil, und das ist der dritte große
       Unterschied, wird Fleisch in den meisten Katsu-Rezepten mariniert, damit es
       noch saftiger bleibt.
       
       Ich habe neulich ein wirklich sehr gut gemachtes japanisches
       Schweineschnitzel auf dem Teller gehabt, ein Tonkatsu also. Man kann dabei
       schmecken, was für einen ausgezeichneten Eigengeschmack ein Kotelett haben
       kann. Es war so köstlich, das ich direkt an ein anderes Zitat von Heinz
       Bösel denken musste. Der sagt in „Indien“ nämlich auch: „Ich bin ja an sich
       kein Beilagenesser.“
       
       1 Nov 2019
       
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