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       # taz.de -- Kontroverse auf Frankfurter Buchmesse: Barfuß mit Handke
       
       > Die Kontroverse über den Literaturnobelpreis für Peter Handke auf der
       > Buchmesse hält an. Preisträger Saša Stanišić bietet dazu ein Gegengift.
       
   IMG Bild: Brachte bei Auftritten nicht bloß seine Freundin Katja Sämann zum Schmunzeln: Autor Saša Stanišić
       
       „Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?“ Der Suhrkamp Verlag
       würdigt seinen gerade [1][mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Autor Peter
       Handke] mit diesem Zitat auf seinem Frankfurter Messestand. Gedruckt auf
       einem großformatigen Schwarz-Weiß-Foto sieht man den Meister sitzend an
       einem Holztisch in einem verwilderten Garten. Er wirkt melancholisch, fast
       traurig, fragil und nachdenklich. In vier Regalen sind unter dem Bild seine
       Werke ausgestellt.
       
       Handke ist das allgegenwärtige Gespenst auf der Frankfurter Buchmesse
       dieser Tage. Die Frage, wie sehr sein literarisches Werk durch seine
       proserbische Haltung während der Jugoslawien-Kriege kompromittiert ist, sie
       spaltet. Während der derzeitige Doyen der deutschen Literaturkritik, Denis
       Scheck, im Gespräch „Toleranz“ für Handke fordert und „sehr viel Meinung,
       aber sehr wenig Ahnung“ in der Debatte sieht, erneuern vor allem
       diejenigen, die damals etwas näher an den Geschehnissen waren, ihre Kritik.
       [2][Der diesjährige Buchpreisträger Saša Stanišić] nutzte seine prominenten
       Auftritte, um Handke und das Nobelpreiskomitee weiter scharf zu
       kritisieren.
       
       Er erinnerte an Handke-Formulierungen aus den 1990ern, mit denen dieser
       Menschenrechtsverbrechen serbischer Nationalisten relativierte. „In seinem
       Text, der über meine Heimatstadt Višegrad verfasst worden ist“, so
       Stanišić, „beschreibt Handke unter anderem: ‚Milizen, die barfuß nicht die
       Verbrechen begangen haben können, die sie begangen haben.‘ Diese Milizen
       und ihr Milizenführer, der Milan Lukić heißt und lebenslang hinter Gittern
       sitzt, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, erwähnt er nicht. Er
       erwähnt die Opfer nicht. Er sagt, dass es unmöglich ist, dass diese
       Verbrechen geschehen konnten. Sie sind aber geschehen. Mich erschüttert so
       was, dass so was prämiert wird.“
       
       Handke ging mit dem Serbenführer Slobodan Milošević tatsächlich bis an
       dessen Grab, trat bei der Beerdigung 2006 als Redner auf.
       
       ## „Menschenverachtung und Lügen“
       
       „Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?“ Tja, wer sagt es? „Man
       kann Handkes Naturmystik genießen“, sagt Dany Cohn-Bendit in einem Gespräch
       in den Messefluren. „Sich auch an ihr ergötzen“, aber, so Cohn-Bendit,
       „muss man wirklich auch gleich nobelisieren, was Handke an
       Menschenverachtung und Lügen über Bosnien und Serbien verbreitet hat?“
       
       Das Stockholmer Komitee meint, schon. Es verteidigt in nachgeschobenen
       Texten die Entscheidung. Nachdem man dort in den letzten Jahren nach
       hausinternen Skandalen selbst im Fokus der Kritik stand, hat man jetzt mit
       Handke einen ausgewiesenen Journalistenhasser den Medien in den Ring
       geschleudert.
       
       Bei einem Eklat am Mittwoch in Österreich hat der auch gleich angekündigt,
       mit der unwürdigen Spezies Journalist kein weiteres Wort mehr je reden zu
       wollen. [3][Denn er komme „von Homer“ und „von Cervantes“.] Und die
       Journalisten des ORF eben nicht. Inszenierte Diskursverweigerung,
       vielleicht auch Alterscholerik, um sich erst gar nicht auf Kritiken wie die
       von Saša Stanišić – „Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter
       Handke in seinen Texten nicht beschreibt“ – einlassen zu müssen.
       
       ## Witz und Offenheit
       
       Dabei scheint eher Saša Stanišić „von Cervantes“ her zu kommen. Während der
       Messe brachte er bei den Lesungen aus seinem jetzt preisgekrönten Werk
       „Herkunft“, die Besucher*innen verlässlich zum Schmunzeln. Etwa wenn er
       eine Passage über „Doktor Heimat“ vorträgt, in der es darum geht, wie sehr
       die bosniakische Karies der deutschen gleicht – und wie wichtig ein simpler
       Gruß über den Zaun sein kann. Die autobiografisch grundierten Anekdoten aus
       dem Leben eines Neudeutschen stecken voller Witz und Offenheit – eine
       Perspektive mit Interesse für die anderen, ohne dabei das eigene Ich zu
       verstecken.
       
       Handke erklärte als Schriftsteller nicht den Krieg in Jugoslawien.
       Analytisch betrachtet war ihm der schnuppe. Er ergriff
       literarisch-propagandistisch Partei für deren mörderischste Fraktion, die
       des serbisch-völkischen Nationalismus. Aus ideologischer Verblendung heraus
       glaubt er eine höhere Wahrheit zu kennen, menschenrechtliche Argumente
       ignorieren zu können.
       
       Ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller, Eugen Ruge, scheint genau den
       entgegengesetzten Weg zu gehen. Auf der Messe stellte er [4][seinen neuen
       Roman „Metropol“] vor. Der Buchpreisträger von 2011 („In Zeiten des
       abnehmenden Lichts“) nähert sich hier der Phase des großen stalinistischen
       Terrors in der Sowjetunion an.
       
       Die Jahre 1936 bis 1938, mittendrin als literarische Hauptfigur Ruges
       Großmutter Charlotte, einst tatsächlich Agentin der Komintern. Als
       Zimmernachbar im Hotel Metropol und nun im Roman zeitweise Lion
       Feuchtwanger, überzeugter Antifaschist, großer Schriftsteller – und Gast
       Stalins. Er soufflierte dem Massenmörder Stalin 1937 in einer skandalösen
       Schrift. Erzählung mit Recherche zusammenzubringen, es lohnt sich. Die Welt
       ist in vielem unentdeckt und wird dies auch immer sein.
       
       18 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Literaturnobelpreis-fuer-Peter-Handke/!5629204
   DIR [2] /Deutscher-Buchpreis-2019/!5633925
   DIR [3] https://blogs.taz.de/buchmesse/2019/10/16/maenner-die-von-maennern-kommen/
   DIR [4] /Metropol-von-Eugen-Ruge/!5629823
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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