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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie will nicht mehr die andere sein
       
       > Cordula Gerburg war Schauspielerin, 45 Jahre lang. Seit sie von der Bühne
       > runter ist, sieht sie die Wirklichkeit auf neue Weise.
       
   IMG Bild: Eines Abends steht Gerburg auf der Bühne und denkt: „Was mache ich da eigentlich?“
       
       Unweit der Ostsee wohnt Cordula Gerburg in einem kleinen Dorf. Sie ist
       nicht allein. Bingo ist bei ihr – der zweite Mann ihres Lebens, der
       eigentlich Ingo heißt.
       
       Draußen: Es ist ein winziges und menschenleeres, von Bäumen flankiertes
       Sträßchen, das sich zum Haus mit der Nummer 5 windet, die Cordula Gerburg
       mit blauer Ölfarbe auf einen Feldstein am Wegrand gemalt hat. Am Stein
       endet der schmale Asphaltstreifen, nun führen zwei Reifenspuren über die
       Wiese zum Haus, das sich unter bis aufs Dach kletternden Weinreben
       versteckt.
       
       Drinnen: Im Winter sitzen sie und ihr Mann drinnen im großen Wohnzimmer mit
       den vier Fenstern, Ingo Waszerka am Schreibtisch mit den Papierstapeln vor
       dem Shakespeare-Porträt. Cordula Gerburg im Ohrensessel vor dem Fenster,
       das den Blick über das blonde Stoppelfeld freigibt, hinter dem irgendwo die
       Ostsee liegen muss. Man hört es an den Möwen, spürt es am Wind.
       
       Fünf Häuser: Die Nummer 5 ist das letzte Haus von Ruest, „es gibt nur noch
       5, die andern 50 haben sie in den Sechzigern abgerissen“. Die Sozialisten
       hatten beschlossen, dass „alle nach Mestlin ziehen sollen. Sie hatten sechs
       Stunden Zeit, ihre Sachen zu packen.“ Cordula Gerburg sagt es und schüttelt
       den Kopf.
       
       Der Gutshof: Der Gutshof von Herrn Cords samt den vier Nebengebäuden und
       der Kirche durfte stehen bleiben. Aber Bingo – der wie gesagt Ingo heißt,
       zu dem Cordula Gerburg aber nur Bingo sagt, weil er sozusagen ihr
       Hauptgewinn ist – machte nach dem Fall der Mauer Herrn Cords ausfindig, der
       inzwischen wieder rechtmäßiger Eigentümer der letzten fünf Häuser von Ruest
       geworden war. „Sechs Mark der Quadratmeter“, sagte Cords, als Bingo nach
       dem Kaufpreis fragte. „Das ist zu wenig!“, sagte der Käufer. „6 Mark der
       Quadratmeter oder gar nicht“, sagte der Verkäufer.
       
       Unter solch günstigen Bedingungen wird man sich schnell einig. Im Sommer
       sitzen sie jetzt also vor einem der Nebengebäude, am großen Tisch, wo das
       Gras wächst, Blumen blühen und welken, und reden mit dem Hund, den Hühnern,
       dem Frosch und miteinander.
       
       Der Fehlstart: Ursprünglich hieß Cordula Gerburg einmal Gerburg-Cordula
       Minke. „Meine Mutter und ich wohnten in einer winzigen Wohnung mit
       Pappwänden in einem Krankenhaus in Lübeck, es roch nach Chlor und Medizin.“
       Die Mutter arbeitete dort. Das Abitur bestand Gerburg-Cordula mit einer
       Eins in Französisch und einer Fünf in Englisch. „Wie geht das denn?“,
       fragte der Direktor die Schülerin und Gerburg sagte: „Fragen Sie doch mal
       den Englischlehrer!“
       
       Der Traum: Schon damals wollte sie auf die Bühne. „Aber zuerst lernst du
       etwas Ordentliches“, sagte die Mutter. Also wurde die Tochter
       Fremdsprachenkorrespondentin, um stante pede zur Schauspielschule in
       Hannover zu wechseln. Mit 21 hatte sie ihr erstes Engagement in Luzern,
       1966 ein beliebtes Exil für homo- und bisexuelle Künstler. „Ich war die
       einzige Hetero-Schnecke im ganzen Haus.“ Mit dem Direktor kam sie zurecht.
       „Wenn so einer schon im Bademantel die Tür öffnet, muss man damit rechnen,
       dass er ihn auch aufmacht. Dann dreht man sich um und geht.“ Dennoch
       kündigte sie. Der Impresario nörgelte ihr zu viel. „Das wirst du noch
       bereuen!“, sagte er.
       
       Das Spiel: Sie bereute nicht und ging nach Braunschweig, wo Anfang der
       Siebziger der Regisseur Peter Zadek im Zuschauerraum auftauchte, der sich
       ein neues Ensemble für das Schauspielhaus in Bochum zusammenstellen wollte.
       „Ich war so aufgeregt, dass ich eine Woche vorher aufgehört habe zu
       kiffen.“
       
       Unter Zadek: In Bochum war 1972 „die Crème de la Crème des deutschen
       Theaters“: In der Kantine saß Fassbinder, der seinen Hund, einen Boxer, dem
       Regisseur zuliebe Zadek genannt hatte und ständig rief: „Zadek, mach Platz!
       Zadek, sitz!“
       
       Der erste Mann ihres Lebens: Nach Bochum ging sie ans Staatstheater nach
       Darmstadt, gemeinsam mit dem Regisseur István Bödy, den sie für den Mann
       ihres Lebens hielt. Bis zu dem Tag, als kein Stuhl mehr frei war im
       Tonstudio und sie auf dem Schoß des Dramaturgen Ingo Waszerka Platz nehmen
       musste. Seitdem heißt Ingo Bingo.
       
       Bingo: Sie spielten den Faust, „Teil eins und zwei, an einem Abend. Das
       hatte bis dahin noch niemand gemacht.“ Fünf Stunden dauerte die
       Vorstellung, Cordula Gerburg spielte das Gretchen. Eine Ehre, natürlich,
       aber auch „eine Herausforderung. Bei berühmten Rollen wirst du immer an den
       anderen gemessen. Wie spielt die das jetzt?“ Sie spielte gut, vielleicht,
       weil sich im realen Leben gerade ein ähnliches Drama abspielte: Da war
       Ingo, und da war István. Und als klar war, dass Ingo Bingo war, beschloss
       sie: „Jetzt bekomme ich ein Kind!“
       
       Das wahre Leben: Nach 22 Jahren wollte sie „nur noch für das Kind und den
       Hund da sein.“ Ein Jahr hielt sie durch. Dann musste sie weiterspielen, in
       Bremen und wieder in Bochum, wo sie 1982 mit Peymann ihre größten Erfolge
       feierte – „auf jeden Fall versanken wir in einem Meer von Blumen“. Sie
       spielten die Fledermaus, „Herbie“ Grönemeyer war der Prinz Orlofsky, sie
       die Adele. Und als die Mauer fiel, folgte 1993 das Theater von Schwerin, an
       dem sie die erste West-Schauspielerin war und Ingo der erste
       West-Intendant. „Schwere Zeiten. Wenn ich in die Kantine kam, verstummten
       die Gespräche.“ Aber als sie die Callas spielte, brach das Eis.
       
       Der Erfolg: Sie erkannten, dass sie es ernst meinte. Dass sie fiktive
       Figuren so ernst nahm, als lebten sie wirklich und gerade jetzt. „Man muss
       meinen, was man sagt!“, egal, ob man die Medea oder die Callas ist. Viermal
       nur trat sie als die Callas auf, stand in ihren High Heels auf dem
       Bretterboden des Mecklenburgischen Staatstheaters, und viermal, sobald der
       Vorhang gefallen war, musste man die Frau, die gerade noch leichtfüßig über
       die Bühne tänzelte – „solange du in Spannung bist, fliegst du, egal was für
       Schuhe“ – zu zweit in die Garderobe tragen.
       
       Wo sie Schuhe und Perücke in die Ecke schleuderte, die Schminke abwischte
       und in Jeans und Turnschuhen in die Kantine ging, um sich Whisky-Cola zu
       bestellen und die Beine quer über den Tresen zu werfen. „Da kommt ein
       älterer Herr herein und fragt mich ganz schüchtern, ob ich wisse, wo
       Cordula Gerburg sei, er hätte gerne ein Autogramm von ihr. Für den brach
       eine Welt zusammen, als ihm klar wurde, dass ich das war. Der ist einfach
       wortlos wieder verschwunden.“
       
       Der Schock: Es war wunderbar. Aber dann, nach 45 Jahren, steht sie eines
       Abends plötzlich da im Rampenlicht und denkt an diese Szene aus einem
       Ingmar-Bergman-Film: Eine Schauspielerin betritt die Bühne, spricht ihren
       Text, alle Scheinwerfer sind auf sie gerichtet, und plötzlich hält sie inne
       und sagt: „Was mach ich da eigentlich?“, tritt ab und spricht während des
       ganzen Films kein einziges Wort mehr.
       
       Die Wirklichkeit: Seitdem nennt sich Cordula Gerburg nur noch Cordula
       Minke-Gerburg. Mit 66 hat sie sich entschlossen, aufzuhören. Das war
       schwer. „Du bist in diesem Beruf ja immer jemand ganz anderes: Elizabeth,
       Polly, Gretchen. Und dann stehst du dir plötzlich wieder selbst gegenüber.
       Nach 45 Jahren! Das ist einfach Scheiße.“
       
       Rückzug: Jetzt waren da nur noch Bingo und das Haus in Ruest. Und Mestlin
       mit seinem Gemeindehaus, in dem Susanne Reichhard mit Jugendlichen Theater
       spielt: zwei Deutschen und einer Handvoll Afrikanern und Afghanen. „Aber
       ich wollte kein Theater mehr machen, ich wollte etwas Sinnvolles tun.“ Also
       begleitete sie Afrikaner aus dem Asylbewerberheim in Parchim zu den Ämtern
       und übersetzte deren Geschichte. Auch die von Camara.
       
       Camara: Der entschloss sich, seine Geschichte auf der Bühne im Gemeindehaus
       zu erzählen. So saß Gerburg dann doch noch einmal auf der Bühne, als
       Übersetzerin. Während der junge Mann aus Guinea erzählte, von dem Tag, an
       dem sie ihr Haus von außen verbarrikadierten und ansteckten, dem Tag, als
       seine Familie verbrannte; von dem Tag, an dem der Freund sagte, „ich gehe
       nach Europa, kommst du mit?“; von der Nacht, als sie das Meer erreichten,
       das er nie zuvor gesehen hatte, der Nacht, als man sie aufs Boot scheuchte
       und einen, der sich weigerte, ins Bein schoss; von dem Morgen, als die
       Sonne aufging und nur Wasser um sie war und eine Frau vor Angst aufhörte zu
       atmen. „Die Leute saßen im Publikum und weinten.“
       
       Heimat: Wenig später wurde Camara 18 Jahre alt. Alt genug, um ausgewiesen
       zu werden. Cordula und Ingo schalteten den Anwalt – und sich ins echte
       Leben – ein. Jetzt hat Camara eine Lehrstelle. „Und erst mal drei Jahre
       Ruhe.“
       
       24 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hans Korfmann
       
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