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       # taz.de -- Justizvollzugsanstalt Tegel: Schutzlos im Strafvollzug
       
       > In der Teilanstalt II der JVA Tegel häufen sich Gewaltvorfälle. Der Umbau
       > der Hafteinrichtung verzögert sich nach Planänderungen des
       > Justizsenators.
       
   IMG Bild: Baulich aus der Kaiserzeit: im Innern der JVA Tegel
       
       Breitbeinig, als könne er vor Kraft kaum laufen, verlässt Rami Y. den
       Gerichtssaal. Ein Justizbediensteter geht vor ihm, einer hinter ihm. Im Hof
       wartet der Gefangenentransporter, der Y. zurück in die Haftanstalt Tegel
       bringen wird. Der kompakte Mann, bekleidet mit einem schwarzen
       Jogginganzug, sieht zufrieden aus. Soeben ist er im Amtsgericht Moabit von
       dem Vorwurf freigesprochen worden, zwei Mithäftlinge in Tegel körperlich
       misshandelt zu haben.
       
       Die Tat war in der Teilanstalt II aktenkundig geworden. Rami Y. verbüßt
       dort eine viereinhalbjährige Haftstrafe. Rund 300 Männer sitzen in der TA
       II ein. Sie gilt als Sammelbecken für Gefangene, die in anderen
       Teilanstalten nicht zurecht kommen. Nirgendwo sonst gibt es so viele
       Schlägereien unter Insassen, nirgendwo wird so viel Druck von Häftlingen
       auf Mitgefangene ausgeübt.
       
       Verschärfend hinzu kommt die bauliche Haftsituation. Die im so genannten
       panoptischen System in offener Galeriebauweise errichtete TA II stammt noch
       aus der Kaiserzeit. Der Lärm ist unerträglich. Die Zellen sind eng und
       dunkel, die Sanitäranlagen veraltet.
       
       Der Prozess gegen Rami Y. fand am vergangenen Mittwoch statt. Vier
       Mitgefangene aus Tegel wurden als Zeugen gehört, darunter auch zwei
       Insassen, die laut Anklage Opfer der Misshandlungen geworden waren. An den
       Vorfall, der sich im August 2018 in einer Zelle in der TA II abgespielt
       haben soll, wollte sich vor Gericht allerdings keiner der Gefangenen mehr
       erinnern können. Auch die Geschädigten nicht. Der eine, der eine Platzwunde
       am Kopf erlitten hatte, verweigerte die Aussage. Der andere, der einen
       Fußtritt ins Gesicht bekommen hatte, sagte aus, ihm sei schwarz vor Augen
       geworden. Aber Rami Y. habe das mit Sicherheit nicht getan. Der habe nur
       schlichten wollen.
       
       ## Rot-Rot-Grün stoppte Neubaupläne
       
       Eigentlich sollte die TA II nach und nach geschlossen werden, um das Haus
       einer Grundsanierung zu unterziehen: Zwischendecken einziehen, neue
       Sanitärbereiche einbauen, Rohrleitungen erneuern. In einem
       Schadstoffgutachten ist in Zellen, Fluren und Kellerräumen zudem Bleifarbe
       festgestellt worden. Laut Umweltbundesamt handelt es sich um deutlich
       erhöhte Werte (taz berichtete).
       
       Das Problem ist: Es gibt keine Alternative, wo die Gefangenen während der
       Sanierungszeit untergebracht werden können. Dabei waren die Planungen für
       einen Ersatzneubau unter dem früheren Justizsenator Thomas Heilmann (CDU)
       relativ weit gediehen. Doch dann wechselte in Berlin die Regierung und
       Rot-Rot-Grün stoppte das Vorhaben.
       
       Statt eines Neubaus will Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) die
       Teilanstalt III reaktivieren. Zuvor muss das unter Denkmalschutz stehende,
       seit Jahren stillgelegte ehemalige Langstrafer-Haus aber saniert und
       umgebaut werden. Das dauert deutlich länger als der Neubau. Vor 2024 werde
       die TA III nicht bezugsfertig sein, sagt Behrendts Sprecher. Die Gelder –
       veranschlagt sind 28 Millionen Euro – seien auch noch nicht bewilligt.
       
       Im Prozess gegen Rami Y. sagte am Mittwoch auch eine Sozialarbeiterin der
       TA II als Zeugin aus. Die 36-Jährige war es, die den Vorfall zur Anzeige
       gebracht hatte. In ihrem Büro habe sie aus der benachbarten Zelle „ein
       enormes Bumsen“ gehört, sagte die Frau. Als sie die Zellentür geöffnet
       habe, sei sie auf „ein Knäuel“ von Inhaftierten gestoßen: „Es ging zur
       Sache.“
       
       ## „Unverzüglich schließen“
       
       Auch die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, deren Einrichtung auf
       ein Übereinkommen der Vereinten Nationen zurückgeht, kritisiert die
       Situation. In ihrem Bericht dazu heißt es: „Die Gesamtschau der baulich
       bedingten Missstände (…) und das baulich bedingte Erfordernis einer
       erhöhten Personalpräsenz in der Teilanstalt II erweckten Zweifel an der
       gegenwärtigen Eignung des Gebäudes für die Unterbringung von Gefangenen“.
       
       Noch deutlicher wird der unabhängige Sachverständige Gerhard Meiborg, der
       die JVA Tegel im Frühjahr 2018 begutachtet hatte. Anlass war der Ausbruch
       eines Häftlings. Der 24-Jährige hatte in der TA II eine Attrappe in sein
       Bett gelegt und sich unter einem Essenslaster versteckt. Die TA II,
       schreibt der vom Justizsenator beauftragte Meiborg in seinem Bericht, sei
       nicht für einen Strafvollzug im 21. Jahrhundert geeignet. „Sie sollte
       unverzüglich geschlossen werden.“
       
       Ob der Angeklagte Rami Y. in der Zelle mit einem Besenstiel um sich
       geschlagen und Fußtritte ausgeteilt hat, wie ihm die Anklage vorwirft,
       vermochte die Sozialarbeiterin nicht zu bezeugen. Sicher war sie sich aber
       in dem Punkt: Einer der Geschädigten habe bei ihrem Eintreffen in der Zelle
       ohne Hose auf dem Bett gesessen. Später, zurück in ihrem Büro, habe sie
       gehört, dass Rami Y. ein Stockwerk tiefer zu anderen Gefangenen gesagt
       habe: „Wir haben ihm einen Besenstiel in den Arsch gesteckt.“ Y.s markante
       Stimme höre sie unter vielen heraus, so die Zeugin.
       
       Zu viel Gewalt, zu wenig Betreuung, keine Resozialisierung, unwürdige
       räumliche Bedingungen, listet Olaf Heischel die Missstände in der TA II
       auf. Auch er ist der Meinung, dass das Haus sofort geschlossen werden
       müsse. Heischel ist schon lange Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirats
       und kennt sich aus. Nahezu täglich gebe es in der TA II Schlägereien, sagt
       er. Die Dunkelziffer sei extrem hoch, die meisten Vorfälle würden nicht
       angezeigt.
       
       ## Zu wenig Personal
       
       Das deckt sich mit den Erfahrungen von Thomas Goiny, der als
       Landesvorsitzender der Gewerkschaft Strafvollzug Justizbedienstete
       vertritt. Goiny zufolge sind pro Schicht für das ganze Haus II – also für
       300 Gefangene – 13 bis 15 Beamten eingeteilt. Die angespannte
       Personalsituation führe dazu, dass die Bediensteten von dem, was sich unter
       den Gefangenen abspiele, „sehr vieles nicht mitbekommen“. Wenn ein
       Gefangener mal einen Vorfall melde, rudere er spätestens beim
       Gerichtsprozess zurück. Die Häufung lasse vermuten, dass auf die Zeugen aus
       den Reihen der Gefangenen massiver Druck ausgeübt werde. „Aber beweisen
       lässt sich das nicht“, so Goiny.
       
       Es sei ganz einfach, sagt Heischel. Die Gefangenen hätten Angst, weil sie
       schutzlos seien. Er kenne Insassen, die sich lieber in ihrer Zelle
       einschließen ließen, als mit anderen in die Freistunde zu gehen. „Subkultur
       hoch zehn“, nennt Heischel es, wenn ein Gefangener kurz mal in eine Zelle
       gezogen und zusammengeschlagen wird. Oder wenn ein breitschultriger Insasse
       entscheide, wer von dem einzigen Telefon, das auf dem Stationsflur steht,
       nach außen telefonieren dürfe und wer nicht.
       
       Menschenunwürdig nennt Heischel solche Zustände. Dass Behrendt den
       Ersatzbau gestoppt hat, sei eine fatale Fehlentscheidung. Er könne dahinter
       nur vermuten, dass der Justizsenator als Grüner aus ideologischen Gründe
       keine neuen Haftplätze bauen wolle.
       
       Danach gefragt, warum Behrendt von den Neubauplänen Abstand genommen habe,
       verweist dessen Sprecher auf die rot-rot-grüne Regierungsvereinbarung: „Die
       Koalition sieht keine Notwendigkeit zur Schaffung weiterer Haftplätze.“
       Neubewertungen der Sach- und Bedarfslage hätten dazu geführt, dass der
       Neubau „nicht als vordringlichste Maßnahme für eine nachhaltige Entwicklung
       der Justizvollzugsanstalt Tegel eingestuft wird“.
       
       Dabei hätte ein Neubau, der auf dem Gelände der abgerissenen TA I
       vorgesehen war, nicht mehr gekostet als die von Behrendt favorisierte
       Sanierung der TA III. Zudem wäre er früher fertig gewesen. Wäre im April
       2018 wie geplant mit dem Bau begonnen worden, hätte vermutlich bereits ab
       2020 belegt werden können. „Demzufolge hätte die TA II deutlich früher
       flügelweise geschlossen und mit der Grundsanierung begonnen werden können“,
       bestätigt Goiny. 2015 sind in der TA II 168 Sicherungsmaßnahmen für
       Gefangene angeordnet worden. Die Zahlen der folgenden Jahre lesen sich so:
       2016 (159), 2017 (258), 2018 (235), erstes Halbjahr 2019 (78). Jeder
       Gewaltvorfall sei einer zu viel, sagt Behrendts Sprecher. Was er von dem
       Vorwurf halte, die Verhältnisse in der TA II seien absolut untragbar? Dass
       die angeordneten Sicherungsmaßnahmen rückläufig seien, so der Sprecher,
       zeige doch, dass das nicht zutreffend ist.
       
       Ob sie etwas über den Anlass der Schlägerei in der Zelle gehört habe,
       fragte der Amtsrichter die Sozialarbeiterin am Mittwoch. Ihr sei zu Ohren
       gekommen, dass es sich um „den Rachefeldzug einer Einheit“ gehandelt habe,
       „die sich Wolfsrudel nennt“, antwortete die Zeugin.
       
       Und wie geht es in der Teilanstalt II nun weiter? Die Situation dürfte kaum
       besser werden, wenn der Rockerboss Kadir P. und seine Mitangeklagten dort
       einliefen, befürchtet Goiny. Wegen eines Auftragsmords in einem Berliner
       Wettbüro hatte das Landgericht nach jahrelangem Prozess kürzlich acht Mal
       lebenslänglich verhängt. Noch sitzen die Rocker in Moabit, noch ist das
       Urteil nicht rechtskräftig.
       
       Mangels Beweisen blieb dem Amtsrichter nur, Rami Y. freizusprechen. Als er
       das Urteil verkündete, sprach er vom „typischen Setting“: In einer engen
       Gefängniszelle ereigne sich ein schwerwiegender Vorfall, aber keiner habe
       etwas gesehen: „Das glaubt doch kein Mensch.“
       
       21 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
       
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