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       # taz.de -- Die Wahrheit: Flashbacks aus der Sommerzeit
       
       > Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die
       > Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los. Winde? Ja, Winde.
       
   IMG Bild: Das Internet als neues Delphi: Schau in den Spiegel der Weisheit und erkenne dich selbst
       
       Manchmal, mitten in meinem frühherbstlichen, grauen und depressiven Alltag,
       habe ich noch kurze, durch Kleinigkeiten hervorgerufene Flashbacks aus der
       Sommerzeit. Das ist wie mit komplizierten Kriegserfahrungen oder den
       Madeleines bei Marcel Proust.
       
       Während ich nämlich frierend durch das verregnete Berlin laufe, überkommen
       mich alte Gefühle in kleinen, seelenwärmenden Wellen. Die Auslöser reichen
       von ein paar losen Sonnenstrahlen über den traurigen Anblick lädierter
       Flip-Flops bis zur vom Regen halb abgewaschenen Tafel vor der nächsten
       Eisdiele. Alles ist erst Anlass für kurze Euphorie und dann für eine sehr
       lange, überaus tiefe Traurigkeit.
       
       Die ersten Herbstwochen geben mir einen Vorgeschmack auf das Grundgefühl
       eines Mannes Anfang vierzig, der jeden Morgen neben einem Haufen
       ausgefallener Haare und einem ebenso großen Haufen geplatzter Träume
       aufwacht.
       
       Die bisher eindrucksvollste Sommererinnerung hatte ich beim Warten auf die
       U-Bahn. Ausgangspunkt war ein chemischer, süßlicher, alles überdeckender
       und trotzdem eindeutig den Reinigungsgrund erahnen lassender Geruch, der
       dort in der Luft hing. Sofort hatte etwas Unterbewusstes die Verbindung
       hergestellt und mich in die seit vier Tagen von zu vielen Menschen
       benutzten, ab neun Uhr in der Früh in der prallen Sommersonne stehenden,
       nur sporadisch ausgepumpten und mit Geruchs-Chemie nachgebesserten
       Festival-Toiletten von Ende Juli zurückversetzt. Woodstock! So ungefähr
       jedenfalls.
       
       ## Toi-Lituation
       
       Innerlich jubelnd stand ich nach längerer Selbstüberwindung mit einer
       geliehenen Rolle Klopapier vor einer der ollen Dixi-Kabinen. Die ganze
       Toiletten-Situation (kurz: Toi-Lituation) baute sich mit einer
       bemerkenswerten Dichte um mich herum auf. Das mürbe Toilettenpapier, das
       von einem Fuß auf den anderen tretende Schwitzen in der Schlange, das
       klamme Schwitzen im Dixi, die immer gegenwärtige Gefahr von Brechreiz, wenn
       man auch nur kurz die eigene Selbstbeherrschung aus dem Auge verliert …
       plus die Möglichkeit, beim unfreiwilligen Blick hinunter ins tiefe Loch das
       lange Wochenende aus Sicht vieler fremder Verdauungsorgane
       nachzuvollziehen.
       
       Das alles machte mich ganz melancholisch. Unappetitlich. Degoutant. Aber
       was hat der Herbst im Vergleich dazu zu bieten? Nur Halsschmerzen,
       Erkältung, ein immer irgendwie Falsch-angezogen-sein und das unangenehme
       Gefühl, jemandem aus Versehen ins Gesicht geniest zu haben.
       
       Der Herbst ist die grüne Paprika der Jahreszeiten – einfach nur fade.
       Selbst in seinen Tiefpunkten ist der Sommer besser und führt dich an die
       Schmerzgrenze. Der Herbst hingegen empfiehlt, vorsorglich einen Regenschirm
       mitzunehmen. Von Gefühlen überwältigt und auch ein wenig angewidert von mir
       selbst, holte ich noch einmal tief Luft.
       
       22 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konstantin Hitscher
       
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