URI: 
       # taz.de -- Jüdisches Leben nach Anschlag von Halle: Zerstörtes Vertrauen
       
       > Ihre Warnungen vor Antisemitismus verhallten ungehört. Zu Besuch in
       > jüdischen Gemeinden in Leipzig, Berlin und München.
       
   IMG Bild: Synagoge in Leipzig: jetzt mit Polizeischutz
       
       Leipzig/ Berlin/ München taz | Vor dem schwarzen Metalltor, das die mit
       Glasornamenten durchsetzte Eingangstür der Leipziger Synagoge schützt,
       haben Menschen Blumen niedergelegt. Eine junge Polizistin sitzt nur wenige
       Meter entfernt in ihrem Fahrzeug, ihr Kollege sortiert den Inhalt des
       Kofferraums.
       
       Exakt 42 Kilometer trennen die Synagoge in Halle vom Gotteshaus der
       Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig – ziemlich genau die Strecke
       eines Marathons, Laufdistanz gewissermaßen. Als [1][Stephan B.] am 9.
       Oktober versuchte die Synagoge in Halle zu stürmen und anschließend zwei
       Menschen tötete, hieß es in sozialen Medien, er sei auf dem Weg nach
       Leipzig. Eine Falschmeldung. Der Attentäter von Halle sitzt in
       Untersuchungshaft, die Leipziger Synagoge wird, wie zahlreiche jüdische
       Einrichtungen in ganz Deutschland, seit knapp zwei Wochen rund um die Uhr
       von der Polizei bewacht.
       
       Am Sicherheitsgefühl der Gemeindemitglieder hat das augenscheinlich wenig
       geändert. „Fragen sie doch die nichtjüdischen Deutschen, was sie über Juden
       denken, wenn Sie etwas über unsere Situation wissen wollen. Das sollten Sie
       schreiben“, sagt Küf Kaufmann am Telefon. Der Vorsitzende der Leipziger
       Gemeinde klingt nach einer Mischung aus Wut, Trotz und Resignation. „Was
       soll das bringen? Immer nur reden“, sagt er. Letzten Endes würde man nur
       das wiederholen, wovon die jüdischen Gemeinden in Deutschland seit Jahren
       berichten. Warnungen, die augenscheinlich nicht ernst genommen würden.
       
       Die Synagoge am nördlichen Rand der Leipziger Innenstadt versteckt sich
       hinter einer unscheinbaren Backsteinfassade zwischen einem Friseursalon und
       dem Firmensitz einer Versicherungsgesellschaft. Passanten ziehen vereinzelt
       durch die kleine Seitenstraße, nur wenige bemerken die Blumen auf der Stufe
       des Eingangs.
       
       ## Jan Monosov in Leipzig: doppelt diskriminiert
       
       Der 30-jährige Jan Monosov kam einst mit seiner Familie als jüdischer
       Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Seine
       Verortung im Judentum nennt er „liberal“, sein Profilfoto auf Facebook
       zeigt ihn mit Kippa, im Alltag spiele die Religion für ihn keine prägende
       Rolle. In Deutschland sehe er sich trotzdem doppelt bedroht: als Ausländer
       und als Jude, Rassismus und Antisemitismus gingen hier Hand in Hand. Der
       Anschlag von Halle überrasche ihn nicht, wenn man sehe, wie oft in den
       letzten Jahren Flüchtlingsunterkünfte zur Zielscheibe wurden. Seine ersten
       Wochen in Deutschland verbrachte er damals in einem Flüchtlingsheim in
       Brandenburg, das von Neonazis attackiert wurde. Für Mitschüler sei er
       damals wahlweise „der Russe“ oder „der Jude“ gewesen. Daran habe sich bis
       heute nichts geändert. Deutschland sei für Juden nach wie vor „Täterland“,
       sagt der Leipziger ohne Wut. Es mutet nicht an wie ein Vorwurf, sondern
       mehr als nüchterne Bestandsaufnahme. „Daran wird sich auch nichts ändern“,
       schließt er.
       
       Kurz vor 14 Uhr ist Schichtwechsel vor der Synagoge. Die beiden Polizisten
       verstauen ihre schusssicheren Westen im Kofferraum. Feierabend. Die nächste
       Streifenwagenbesatzung bezieht Position vor dem Gotteshaus. Minuten später
       verlässt der Rabbiner mit zwei Kindern an den Händen das Gebäude. Fröhlich
       winken die Mädchen den Polizisten. Die Beamten winken zurück.
       
       ## Berlin: „Gelernt und vergessen“
       
       Levi Salomons Telefon klingelt ununterbrochen. Zwischen Interviews und
       Fototerminen raucht er eine Zigarette vor dem Büro des Jüdischen Forums für
       Demokratie und gegen Antisemitismus in Berlin. Salomon gründete das Forum
       vor elf Jahren, um einen Raum zu schaffen für die jüdischen Perspektive auf
       Antisemitismus in Deutschland. Salomon sieht müde aus.
       
       Die öffentliche Überraschung über antisemitische Gewalt ist den Mitgliedern
       der jüdischen Gemeinschaft in Berlin nur zu bekannt. Genauso wie die
       Kurzlebigkeit von Versprechen der Politik, man werde jetzt etwas
       unternehmen. Viele sind der Presseanfragen überdrüssig, die sich immer nur
       dann häufen, wenn etwas Schlimmes passiert ist.
       
       Von dem Anschlag überrascht kann nur sein, wer nicht selbst von
       Antisemitismus betroffen ist und wer die [2][Zahlen] nicht kennt: Im
       Schnitt erreichen die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in
       Berlin mehr als zwei Meldungen pro Tag. Jüdische Einrichtungen beklagen die
       Sicherheitssituation seit Jahren. Ändert der Anschlag für Berliner Jüdinnen
       und Juden überhaupt etwas?
       
       „Gelernt und vergessen“, sagt Salomon in seinem Büro. Die Politik habe aus
       vergangenen Angriffen gelernt und sie wieder vergessen. „Ich glaube den
       Politikern, wenn sie sagen: ‚Nie wieder‘. Ich glaube ihnen, dass sie das
       nicht wollen. Aber ich möchte ihre Worte an Taten messen.“ Er fordert einen
       besseren Schutz von jüdischen Einrichtungen, eine Bildungsoffensive,
       Aufklärung über Antisemitismus in Schulen.
       
       Als Salomon am Tag des Anschlags auf sein Handy schaute, las er: „Schüsse
       in der Nähe einer Synagoge“. Salomon war sofort klar, dass es sich um einen
       antisemitischen Terroranschlag handelte, noch bevor das der Polizei bewusst
       war. Er setzte sich ins Auto und fuhr nach Halle. Er twitterte wie wild,
       gab Informationen weiter, sprach mit dem Gemeindevorsitzenden Max
       Privorozki. „Ich schaute mir auch das ganze Tätervideo an. Ich habe mich
       dabei schlecht gefühlt. Aber ich muss verstehen, was im Kopf dieser
       Menschen vorgeht.“
       
       Salomon beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem, was in diesen Köpfen
       vorgeht. Damit, warum Antisemitismus ein so allgegenwärtiges und doch oft
       übersehenes Phänomen ist. Er war der erste Antisemitismusbeauftragte der
       Jüdischen Gemeinde in Berlin – und wahrscheinlich der erste in der
       Bundesrepublik überhaupt. Für das Jüdische Forum für Demokratie und gegen
       Antisemitismus fährt er regelmäßig auf rechtsextreme Demos, nach Chemnitz,
       nach Budapest, nach Ostritz, um zu dokumentieren, was dort passiert. „Die
       Strukturen der Neonazis sind intakt. Dass jemand aus diesem Milieu einen
       Terroranschlag verübt, überrascht mich überhaupt nicht.“
       
       Auf einer Demonstration während des Gazakriegs vor zehn Jahren hat Salomon
       einmal ein kleines Mädchen beobachtet. Es malte, erzählt Salomon, mit
       Kreide einen Teufel auf den Asphalt. Der Teufel trug einen Davidstern.
       „Anhand dieses Bildes kann ich die gesamte Geschichte des Antisemitismus
       nacherzählen“, sagt er. „Es sind dieselben Stereotype aus dem Mittelalter,
       mit denen wir es auch heute noch zu tun haben: Juden seien Gottesmörder,
       des Teufels, Kindermörder, Wucherer.“ Der Antisemitismus sei immer da
       gewesen, er änderte nur sein Gewand. Heute würden deutsche Jüdinnen und
       Juden oft für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich
       gemacht.
       
       Wie weit verbreitet antisemitische Stereotype in allen Teilen der
       Gesellschaft sind, sei den meisten nicht bewusst, sagt Salomon. Der
       Antisemitismus unterscheide sich aber grundlegend von anderen Phänomenen,
       wie dem Rassismus: „Der Rassismus wertet Menschen ab, entmenschlicht sie.
       Der Antisemitismus wertet sie auch ab, aber gleichzeitig auf: Juden
       regieren angeblich die ganze Welt.“
       
       ## Berlin: „Wir gehören dazu“
       
       Beim ersten Mal, als Ruben Gerczikow antisemitisch beleidigt wurde, war er
       fünf. Er spielte damals für den Fußballverein Makkabi, als einer der
       Gegenspieler ihm zurief: „Magst du Hitler?“ Seither gehören Kommentare wie
       diese zu seinem Alltag. Gerczikow sitzt in einem Berliner Imbiss. Zwischen
       Job und Podiumsdiskussion beantwortet er während des Mittagessens Fragen.
       
       Gerczikow ist Vorstandsmitglied der Jüdischen Studierendenunion Deutschland
       (JSUD) in Berlin. Diese vertritt Juden und Jüdinnen zwischen 18 und 35
       Jahren. „Ältere Menschen in der jüdischen Gemeinde haben oft noch dieses
       Gefühl, auf ‚gepackten Koffern‘ zu sitzen, jederzeit fluchtbereit zu sein.
       Das ist bei meiner Generation weniger der Fall“, sagt er. „Wir sind hier
       geboren und aufgewachsen, Deutschland ist unsere Heimat. Wir sind hier, wir
       werden bleiben und wir gehören dazu.“
       
       „Der Anschlag war für mich ein Schock, aber keine Überraschung“, sagt auch
       Gerczikow und zählt die vielen antisemitischen und rechtsextremen Angriffe
       der letzten Monate und Jahre auf. „Es ist nicht verwunderlich, dass so
       etwas passieren musste. Wir sind in Deutschland einer ständigen Gefährdung
       ausgesetzt.“ Was ihn dennoch verblüfft: „Diese rechten Netzwerke im
       Internet sind bekannt. Warum werden rechtsextreme und antisemitische
       Inhalte nicht vom Netz genommen? Warum gehen die Behörden nicht stärker
       gegen die Menschen vor, die sich auf diesen Plattformen bewegen?“
       
       Gerczikow glaubt, die einzige Lösung im Kampf gegen Antisemitismus sei mehr
       Aufklärung. Aber nicht nur über Antisemitismus: „Es gibt in Großstädten oft
       ein blühendes jüdisches Leben. Aber viele Menschen in Deutschland hatten
       noch nie mit einem Juden Kontakt und wissen kaum Bescheid über das
       Judentum.“ Das müsse sich ändern, um Stereotype zu bekämpfen.
       
       ## Schweden: Besuch abgesagt
       
       Auch [3][Walter Frankenstein] möchte aufklären. Der 95-jährige Sohn
       Deutscher jüdischen Glaubens versteckte sich von 1943 bis 1945 mit seiner
       Familie in Berlin. Sie überlebten den Holocaust knapp und wanderten erst
       nach Palästina, später nach Schweden aus. Heute besitzt Frankensein die
       schwedische und deutsche Staatsbürgerschaft und versteht sich als Atheist.
       Für seine Umgebung bleibe er trotzdem, so sagt er, „der ewige Jude“.
       
       Frankenstein kommt regelmäßig nach Berlin, um Schulklassen zu besuchen und
       ihnen von seinem Leben zu erzählen. Doch seine geplante Berlin-Reise im
       November hat er nach dem Anschlag abgesagt. „Ich habe diesen Anschlag
       erwartet“, sagt er am Telefon, „ich bin überrascht, dass es nicht viel
       schlimmer gekommen ist.“ Frankenstein ist wütend auf die deutsche Politik.
       „Es ist eine große Enttäuschung, dass die deutsche Regierung die Juden und
       Jüdinnen nicht schützt“, sagt er. Dabei hatte er immer Hoffnung, besonders
       bei seiner Arbeit mit Jugendlichen. Doch „den leisen geheimen
       Antisemitismus, den gab es immer“, sagt er.
       
       Für Salomon und das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus
       ändert sich mit dem Anschlag nichts: „Heute kommt die Reaktion aus der
       Politik, man muss etwas machen. Und morgen kommt der Alltag.“ Angst hat
       Salomon keine. „Ich wusste schon immer, dass ich gefährdet bin.“
       
       Vor der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg patrouillieren derweil
       Polizisten mit schusssicheren Westen und Maschinenpistolen. Die Blumen, die
       vor einem Informationsschild gelegt wurden, sind verwelkt. Auf der Mauer
       sind Sicherheitskameras angebracht. Die Sicherheitsvorkehrungen seines
       Büros werde Salomon nicht verstärken – kein Geld. Zumindest sei es nicht
       leicht zu finden und nirgends verzeichnet. „Das ist unsere Sicherheit“,
       sagt Salomon.
       
       ## München: „Ich bin es nicht anders gewohnt“
       
       Münchner Innenstadt, Jakobsplatz. Die Sonne gibt an diesem Oktobertag noch
       einmal alles. Man könnte eigentlich wunderbar draußen sitzen – so wie es
       die Besucher aller umliegenden Cafés auch tun. Könnte man. Nur hat das
       Einstein keine Terrasse. Stattdessen passiert man eine Sicherheitsschleuse,
       wenn man in dem jüdischen Restaurant essen möchte.
       
       Marian Offman nimmt das mit der Schleuse gelassen. „Ich bin es nicht anders
       gewohnt“, sagt er. „Das war schon immer so. Ich weiß noch, als meine Kinder
       klein waren und ich sie in den Kindergarten gefahren habe, da standen die
       Polizisten mit Maschinenpistolen vor dem Kindergarten.“ Der heute
       71-Jährige sitzt an einem Fenster des Restaurants, das natürlich aus
       Panzerglas ist, vor sich eine zuckerfreie Cola.
       
       Durch das Fenster sieht man zur Synagoge Ohel Jakob hinüber, der neuen
       Münchner Hauptsynagoge. Am 9. November 2006 wurde sie eröffnet. Die
       Israelitische Kultusgemeinde, in deren Vorstand auch Offman sitzt, ist sehr
       stolz auf die moderne sakrale Architektur. Wie ein aus zwei aufeinander
       gestellten Quadern zusammengesetzter Würfel erscheint der freistehende Bau,
       unten felsig, oben gläsern. Auf dem Tor stehen die ersten zehn Buchstaben
       des hebräischen Alphabets, sie repräsentieren die Zehn Gebote. Vor dem Tor
       sind die Reste eines Blumenmeers zu sehen. Hier haben die Münchner nach dem
       Terroranschlag von Halle ihre Solidarität bekundet.
       
       Offman sitzt seit fast 18 Jahren im Stadtrat, die längste Zeit für die CSU,
       im Sommer wechselte er zur SPD. Auf seine Münchner lässt er nichts kommen.
       In der Außenmauer der Synagoge, die mit ihren unbehauenen Travertinsteinen
       der Klagemauer in Jerusalem nachempfunden sei, finde man immer wieder
       kleine Gebetszettel, erzählt er. Der Münchner Volksmund spreche schon von
       „unserer Klagemauer“ – für Offman ein „Zeichen einer sehr hohen Akzeptanz“.
       Genauso wie die mehr als 350.000 Menschen, die die Synagoge bei einer
       Führung besucht hätten.
       
       In München, davon ist Offman überzeugt, gebe es viel weniger Antisemitismus
       als in anderen Städten. Und doch spricht Offman von einer völlig neuen
       Situation nach Halle. „Mein erster Gedanke, als ich von dem Attentat hörte,
       war, dass wir uns jetzt in eine neue Phase hineinbewegen, was den
       Antisemitismus und die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung angeht.“
       
       Angst hat Offman keine, er geht überall hin, auch auf Pegida- oder
       AfD-Veranstaltungen, zeigt Gesicht, gibt sich als Jude zu erkennen. Er
       versteht aber auch, dass viele Juden Angst hätten. „Sie müssen ja nur auf
       die Straße gehen und irgendein Nazi kommt, zieht eine Knarre und schießt
       Ihnen in den Kopf. Mit Halle sind solche Ängste wieder real geworden.“
       
       Vor ein paar Jahren sei die Atmosphäre noch viel unbeschwerter gewesen.
       „Die Situation hat sich verschärft seit der Zeit, als Pegida auf die Straße
       gegangen und die AfD in die Parlamente eingezogen ist. Jetzt muss man davon
       ausgehen, dass sogar in den Parlamenten Antisemiten sitzen.“
       
       Erfährt er selbst im Alltag Antisemitismus? Nein, sagt Offman. Aber sein
       Name stehe auf Todeslisten von Nazis und auf antisemitischen Hetzseiten wie
       „Judaswatch“. Der Bundesregierung wirft er vor, dass sie es noch immer
       nicht geschafft habe, sie abzuschalten. „Wenn man weiß, dass der Nährboden
       solcher Taten das Internet ist, muss man doch alles daransetzen, solche
       Seiten abzuschalten“, sagt Offman.
       
       ## München: Die Kippa auf
       
       Es ist gar nicht so leicht, Juden in München zu finden, die offen wie
       Marian Offman über diese Themen sprechen. „Die verstecken sich“, sagt ein
       anderer, der sich selbst nie versteckt: Terry Swartzberg. Der gebürtige New
       Yorker, der bereits seit Mitte der Achtziger in München lebt, wurde
       bekannt, als er vor sieben Jahren damit begann, auch in der Öffentlichkeit
       Kippa zu tragen. Er wollte mal sehen, was dann passiert – wie die
       Reaktionen sein würden, wenn er sich öffentlich als Jude zeigt. „Ich habe
       damit angefangen, um mich selbst zu beruhigen.“ Und es funktionierte. Keine
       einzige Beleidigung, keine einzige Pöbelei. „Das ist eine wunderbare
       Normalität. Kein Mensch schaut hin, kein Mensch interessiert sich dafür.“
       
       Was nicht heißt, dass es nicht auch in München Antisemitismus gibt. Gerade
       erst hat die neu eingerichtete Recherche- und Informationsstelle
       Antisemitismus Bayern ihre Zahlen vorgelegt: In den ersten sechs Monaten
       ihres Bestehens registrierte die Stelle 96 antisemitische Vorfälle, die
       Dunkelziffer schätzt sie wesentlich höher ein.
       
       Nach dem Anschlag in Halle bekam Swartzberg sofort einen Anruf von seinem
       Bruder aus den USA: Wo ist Halle? Wie weit ist es von München entfernt?
       Swartzberg beruhigte ihn erst noch: „Keine Sorge, bei uns wird nicht scharf
       geschossen.“ Doch die tatsächliche Tragweite des Geschehens sei ihm erst am
       nächsten Tag bewusst geworden, erzählt er. „Das hat bei mir wahnsinnig
       viele Fragen aufgeworfen. Fragen, die noch nicht beantwortet sind.“ Zum
       Beispiel auch diese: „Wie gefährdet bin ich?“ Und erstmals habe er sich
       auch gefragt, ob es nicht mehr Schutz für alle jüdischen Einrichtungen
       bräuchte. Eine Situation wie in Halle, wo die Gottesdienstbesucher nur
       durch eine abgesperrte Holztür geschützt worden seien, dürfe nicht sein.
       „Dabei vertrete ich ein sehr angstfreies, freudiges Judentum.“
       
       Swartzberg hofft, dass die Politik nun langsam die Gefahr erkenne, die vom
       Rechtsextremismus ausgehe. „Polizei und Justiz in Deutschland und Bayern
       waren ja lange blind auf dem rechten Auge, denken wir nur an das
       Oktoberfestattentat. Jetzt erwarte ich, dass die Neonaziszene richtig
       bekämpft wird.“
       
       Es sind zwei Dinge, die sich Swartzberg vor allem anderen wünscht: „Was wir
       brauchen, ist Sichtbarkeit und Solidarität in der Zivilgesellschaft.“ Immer
       wieder betont er diese beiden Begriffe. „Wir Juden verstecken uns. Und das
       ist ein Teil des Problems. Wenn Juden sichtbar sind, dann können die Leute
       uns kennenlernen, dann können wir ein Netz von Solidarität aufbauen. Sonst
       bleiben wir irgendwas Fremdes.“ Aber die Angst, und vielleicht ist das das
       eigentlich Erschreckende, sitzt sehr tief. „Natürlich wird diese Angst
       jetzt noch verständlicher, weil man sagen kann: Schaut doch, was passiert,
       wenn sie wissen, wo wir sind! Aber langfristig hilft uns nur Sichtbarkeit
       und Solidarität.“
       
       Für Zweiteres seien dann natürlich die Nichtjuden verantwortlich. „Ich
       hoffe, dass die Zivilgesellschaft jetzt wachgerüttelt ist.“ Und: Er wolle
       nichts verharmlosen, und natürlich wisse er, dass laut Umfragen bis zu 16
       Prozent aller Deutschen Antisemiten sind. „Aber das heißt doch auch, dass
       uns mindestens 84 Prozent tolerieren oder mögen. Und die müssen wir
       mobilisieren.“
       
       Terry Swartzberg jedenfalls bleibt zuversichtlich. Seine Kippa werde er
       nicht absetzen. „Ich weiß nicht, ob es unsere größte Idiotie oder unsere
       größte Stärke ist, aber: Wenn wir nicht optimistisch wären, wären wir keine
       Juden.“
       
       22 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Attentaeter-von-Halle/!5629072/
   DIR [2] /Antisemitische-Angriffe-in-Deutschland/!5628893/
   DIR [3] /Berliner-Staatsoper-waehrend-der-NS-Zeit/!5452826/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aiko Kempen
   DIR Dominik Baur
   DIR Anina Ritscher
       
       ## TAGS
       
   DIR Juden
   DIR Antisemitismus
   DIR Jüdisches Leben
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR NS-Dokumentationszentrum
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR CDU
   DIR Jüdische Kontingentflüchtlinge
   DIR Antisemitismus
   DIR Antisemitismus
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Antisemitismus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Xavier Naidoo
   DIR Halle
   DIR Terroranschlag
   DIR Halle
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Antiisraelische Posts von Fußballprofis: Werte müssen mehr als Worte sein
       
       Noussair Mazraoui und Anwar El Ghazi posteten kürzlich anti-israelische
       Inhalte. Höchste Zeit, sie über die jüdischen Wurzeln ihrer Vereine
       aufzuklären.
       
   DIR Marian Offman über Antisemitismus: „Ich stehe auf ihren Todeslisten“
       
       Deutsch zu sein und zugleich jüdisch, kann das gutgehen? Das fragt sich
       Marian Offman, früherer jüdischer Stadtrat in München, in seinem ersten
       Roman.
       
   DIR Jüdische Kontingentflüchtlinge: Was wächst auf Beton?
       
       Die Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge galt als
       Erfolgsgeschichte. Heute ist die Minderheit in Vergessenheit geraten. Eine
       Familiengeschichte.
       
   DIR Jüdische Aktionswoche der CDU: Komm, wir spielen Juden!
       
       Mit der Aktion „Von Schabbat zu Schabbat“ will die CDU jüdisches Leben
       abbilden. Doch Jüdinnen und Juden sind nur Projektionsfläche deutscher
       Folklore.
       
   DIR Flüchtlinge aus der früheren UdSSR: Arm, jüdisch, eingewandert
       
       Von wegen historische Verantwortung: Jüdische Immigranten sind
       schlechtergestellt als Spätaussiedler. So wie Emil Feygman. Seine Rente
       beträgt 71,25 Euro.
       
   DIR 25 Jahre Fritz Bauer Institut: Als die Nazis noch lebten
       
       Nach 1945 war es schwierig, antifaschistische Institutionen in der
       Bundesrepublik zu etablieren. Besonders wenn es um jüdische Geschichte
       ging.
       
   DIR 9. November, diesmal: 1969: Der Tabubruch
       
       Vor 50 Jahren scheiterte ein Attentat auf das Jüdische Gemeindehaus in
       Berlin. Die Täter waren Linksterroristen, die Bombe kam vom
       Verfassungsschutz.
       
   DIR Migranten in Halle nach dem Attentat: „Kiez-Döner“ und der Mord
       
       In Izzet Cagac' Imbiss in Halle hat vor drei Wochen ein Rechtsradikaler
       einen Menschen erschossen. Wie sich das Leben für Cagac seitdem verändert
       hat.
       
   DIR Antisemitismusdebatte in Deutschland: Platz machen, hinhören
       
       Nach dem Terror von Halle fragt sich Deutschland, wie es den Juden
       hierzulande geht. Wo ist dieses Interesse an ihnen, wenn nichts passiert?
       
   DIR Mutmaßlicher Mord an Oury Jalloh: Weiterhin keine Anklage
       
       Der Fall des toten Asylbewerbers Oury Jalloh bleibt bei den Akten. Das
       Oberlandesgericht Naumburg hat eine Klageerzwingung abgelehnt.
       
   DIR Xavier Naidoo und Antisemitismus: Das nächste Alarmsignal
       
       Der Sänger Xavier Naidoo darf laut einem Gerichtsurteil nicht Antisemit
       genannt werden. Das sagt viel aus – über Deutschland.
       
   DIR Berlin nach dem Attentat in Halle: Große Verantwortung
       
       Das Attentat in Halle verunsichert die Berliner jüdischen Glaubens.
       Jüdische Einrichtungen unter stärkerer Bewachung als zuvor. Eine
       Bestandsaufnahme.
       
   DIR Trauer um die Opfer von Halle: Kevin und seine Freunde
       
       In Halle wurde Kevin S. erschossen, der zur eher rechten „Saalefront“
       gehörte. Seine Kumpels schließen sich dem antirassistischen Trauerzug an.
       
   DIR Sicherheitsversagen in Halle: Worte, die fehlen
       
       Der Staat hat beim Schutz der Synagoge in Halle versagt. Bislang gibt es
       aber weder eine Entschuldigung noch Rücktrittsforderungen.