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       # taz.de -- Kristina Hänel über Paragraf 219a: „Das Tabu ist gebrochen“
       
       > Kristina Hänel ist bekannt als „die Abtreibungsärztin“. Sie spricht über
       > den Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und der Ächtung von
       > Abtreibungen.
       
   IMG Bild: Ärztin Kristina Hänel
       
       taz: Frau Hänel, vor zwei Jahren haben Sie [1][der taz ein Interview]
       gegeben, das Sie weltweit bekannt machte. [2][In Ihrem Buch] erzählen Sie,
       wie Sie dabei auf dem Pferd saßen und sich erst später wegen der vielen
       Telefonate mit Journalist*innen ein Headset zulegten. Wie hat die
       Medienpräsenz Ihr Leben noch verändert? 
       
       Kristina Hänel: Es melden sich so viele Frauen in der Praxis, dass wir
       nicht mehr alle versorgen können. Ich arbeite nicht mehr im Rettungsdienst,
       weil dafür einfach keine Zeit mehr ist. Mittlerweile betrachte ich es aber
       als Teil meiner Arbeit, auf Veranstaltungen und in Interviews über
       Schwangerschaftsabbrüche aufzuklären. Ansonsten gehe ich offener mit der
       Bedrohung durch „Abtreibungsgegner“ und Rechtsextreme um.
       
       Inwiefern? 
       
       Über die Angriffe der Abtreibungsgegner wollte ich lange nicht öffentlich
       reden, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Aber spätestens, als ich die
       erste Mail mit rechtsradikalem Inhalt bekam, in der ich mit dem Tode
       bedroht wurde, war mir klar, dass ich den Zusammenhang zwischen
       Rechtsextremismus und der Ächtung des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich
       benennen muss. Öffentlichkeit bedeutet Schutz.
       
       Was ist der Zusammenhang? 
       
       Dem Fundamentalismus geht es immer um die Einschränkung der Freiheit. Der
       Körper der Frau gehört nicht ihr, sondern dem Staat. Der sagt ihr, dass sie
       nicht alleine entscheidet, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht.
       
       Weil laut Paragraf 218 Abtreibung verboten ist und nur unter bestimmten
       Umständen straffrei bleibt. 
       
       Der Gesetzgeber sagt, er müsse den Embryo vor der Frau schützen – das
       schafft er nur, indem er eine ideologische Sicht einnimmt, nach der das vom
       Grundgesetz geschützte Leben ab der Zeugung beginnt. So sehen es die
       Kirchen. Wenn man daraus aber ableitet, die Freiheit eines Menschen
       einschränken zu dürfen, dann ist das letztendlich ein faschistoides Denken,
       das an die Mutterkreuzideologie der Nazis anknüpft.
       
       Es ist ja kein Zufall, dass der so genannte [3][Werbeverbots-Paragraf 219a
       aus dem Jahr 1933] stammt. Oder dass der ehemalige
       Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen in der Kanzlei anfängt, die
       die AfD vertritt und [4][Yannic Hendricks], der mich und viele andere
       Ärzt*innen angezeigt hat. Wenn man diesen Zusammenhang nicht sieht, fehlt
       eine entscheidende Dimension. Ich habe das auch erst durch Interviews mit
       ausländischen Medien verstanden.
       
       Warum? 
       
       Die haben alle immer eine Frage gestellt, die von deutschen
       Journalist*innen nie kam. „Warum habt ihr in Deutschland diese Gesetze?
       Warum behandelt ihr die Frauen so?“ Wirklich alle wollten das wissen, die
       [5][New York Times], der Guardian, die Holländer sowieso, aber auch die
       Franzosen, die ja katholisch sind. Aber dort sind Staat und Kirche sauber
       getrennt. Anders als bei uns.
       
       Nun sind die Versuche, den Paragrafen 219a zu kippen, gescheitert. [6][Der
       Bundestag hat ihn modifiziert], Ärzt*innen dürfen jetzt auf ihre Homepage
       schreiben, dass sie Abbrüche vornehmen, mehr aber auch nicht. Mehr
       Informationen, etwa zu Methoden, stehen auf einer [7][Ärzt*innen-Liste der
       Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung]. 
       
       Aber die enthält die für die Frauen relevanten Details gar nicht, bis zu
       welcher Woche jemand einen Abbruch macht. Viele machen das nur bis zur
       zehnten, dabei ist er bis zur vierzehnten Schwangerschaftswoche erlaubt.
       
       Wie kriegen Frauen das raus? 
       
       Gar nicht! Viele Beratungsstellen bemühen sich zwar um aktuelle
       Informationen, aber leider sind die oft nicht vollständig. Ich hatte
       neulich eine Frau hier, die hatte von einer Liste von Pro Familia zehn
       Praxen abtelefoniert und wurde von einigen übel beschimpft, weil sie schon
       in der zehnten Schwangerschaftswoche war. Eine andere Frau, die zu mir kam,
       hatte einen Termin in einer Praxis, wurde aber wieder weggeschickt, weil
       sie schon in der elften Woche war. Sie musste wieder neu auf die Suche
       gehen, ein Auto organisieren. Da vergeht wertvolle Zeit – je später der
       Abbruch, desto größer die Risiken. Und das sind leider keine Einzelfälle.
       
       War Ihr Einsatz für die Streichung des 219a umsonst? 
       
       Nein, gar nicht. Es wird endlich wieder über das Thema geredet, das Tabu
       ist gebrochen. Es gibt eine [8][neue Generation von Mediziner*innen], die
       die Frauen nicht alleine lassen will.
       
       Zudem können Sie noch vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Ist das
       schon absehbar? 
       
       Leider nicht, weil das [9][Urteil gegen mich wegen der neuen Gesetzeslage
       aufgehoben] wurde und ich noch einmal vor Gericht muss. Das wird mich
       wieder verurteilen müssen, dann erst ist der Weg frei.
       
       Als die taz im Juli bekannt machte, wie wenige Mediziner*innen sich auf die
       neue Liste haben setzen lassen, gab es [10][Stimmen aus der SPD], „doch
       noch einmal rangehen“ zu wollen an den 219a, den sie mit der CDU so
       verabschiedet hat. Haben Sie Hoffnung, dass die SPD doch noch die Kurve
       kriegt? 
       
       Ja, weil der 219a ein Armenparagraf ist und die SPD sich deshalb eigentlich
       verantwortlich fühlen müsste.
       
       Was meinen Sie mit Armenparagraf? 
       
       Unter dem leiden nicht die Akademikerinnen. Die landen nicht auf Seiten wie
       babycaust.de, wo ihnen ein schlechtes Gewissen gemacht wird und sie Bilder
       von zerstückelten Föten zu sehen kriegen. Die finden sich zurecht. Aber die
       anderen, die es ohnehin schon schwer haben im Leben, die vielleicht die
       Sprache nicht sprechen, die Alleinerziehenden, die abhängig sind von
       staatlichen Hilfen – die sitzen weinend bei mir in der Praxis, weil es
       ihnen der Staat so schwer macht, an die Informationen zu kommen, die sie
       brauchen, um die Fristen einhalten zu können.
       
       Daran ist aber nicht nur der Paragraf 219a schuld, sondern auch der
       [11][Paragraf 218], der Frauen eine Bedenkfrist und eine Zwangsberatung
       verordnet. Und der dem Staat den Einfluss darauf nimmt, [12][wie gut Frauen
       in einer Region versorgt sind]. Aber an den 218 traut sich niemand heran,
       auch Sie setzen sich nur für die Streichung des 219a ein. 
       
       Ich bin angezeigt worden wegen dem 219a, dagegen habe ich mich gewehrt, das
       ist mein Thema. Der 219a schafft die große Verunsicherung, deswegen trauen
       sich Ärzt*innen nicht an das Thema heran, deswegen können Dozent*innen an
       Uni-Kliniken angezeigt werden, wenn sie Medizinstudierende ausbilden
       wollen. Aber in der Bewegung, die sich für die sexuelle Selbstbestimmung
       einsetzt, wird heiß darüber gestritten, wie wir mit dem 218 umgehen
       sollten. Die einen sagen mir, du verrätst die Frauenbewegung, wenn du den
       nicht mit thematisierst, wenn du vor das Bundesverfassungsgericht ziehst,
       die anderen sagen, nimm den bloß nicht mit rein in die Verfassungsklage,
       damit vergibst du jede Chance, den 219a zu kippen.
       
       Und wie stehen Sie zum 218? 
       
       Ich halte es mit der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Deutschland dazu
       aufgefordert hat, die Bedenkzeit und die Zwangsberatung abzuschaffen, weil
       das zu späteren Abbrüchen führt und damit die Gesundheit gefährdet.
       
       15 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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   DIR [5] https://www.nytimes.com/2018/03/27/world/europe/germany-nazi-era-abortion-law.html
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