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       # taz.de -- Queere Ballroom-Kultur: „Ich will Bond-Girl sein“
       
       > Ab Mittwoch ist die 2. Staffel der US-Serie „Pose“ zu sehen. Darstellerin
       > Hailie Sahar über Realness und Chancen für trans Schauspieler*innen.
       
   IMG Bild: Hailie Sahar als „Lulu“ bei einem Ball in „Pose“, einem queeren Wettbewerb um die besten Tanzmoves
       
       taz: Frau Sahar, wann waren Sie auf Ihrem ersten Ball? 
       
       Hailie Sahar: Meinen ersten Ball besuchte ich mit 16. Ich habe mich
       rausgeschlichen, eigentlich durfte ich das nicht, und ging mit Freund*innen
       hin. New York war ja das Mutterland der Ballroom-Kultur, aber auch in Los
       Angeles gab es eine relativ große Szene. Beim Ball sah ich Leute mit trans
       Erfahrung zum allerersten Mal – aber ich sah auch eine Spiegelung von mir
       selbst. Ab diesem Moment wollte ich den Ball nie mehr verlassen. Ich war
       süchtig.
       
       Wurde Ihnen da bewusst, dass Sie eine Frau sind? 
       
       Ich habe schon immer gewusst, dass ich eine Frau bin. Mir fehlten
       allerdings die Worte, es zu beschreiben. Als Kind hatte ich das Wort
       „transgender“ nie gehört. Man redete einfach nicht darüber. Aber seit ich
       mich erinnern konnte, hatte ich dieses Gefühl, als wäre ich im falschen
       Körper. Als Teenager habe ich mich dann für eine medizinische und soziale
       Transition entschieden, kurz nachdem ich die Ballroom-Szene entdeckt hatte.
       
       Wie wäre es für Sie gewesen, damals eine Serie wie „Pose“ zu haben? 
       
       Die Möglichkeiten wären unendlich gewesen. Es wäre nicht so schwierig
       gewesen, an mich selbst zu glauben, und ich hätte nicht so viel weinen
       müssen. Aber ich hätte auch besser verstanden, was ich mit diesem Leben
       machen soll. Denn für mich gab es keinen Musterlebensentwurf, kein
       Beispiel. Im Fernsehen sah keine*r aus wie ich. Daher ist Sichtbarkeit
       äußerst wichtig. Kinder müssen sich selbst sehen.
       
       Ist „Pose“ für Sie biografisch? 
       
       Im Großen und Ganzen ja. Einfach die Ballroom-Szene zu entdecken und
       endlich eine Familie zu haben – das ist mit meiner Erfahrung identisch.
       Mein persönlicher Weg war allerdings härter, als es mit meiner Figur Lulu
       in der Serie dargestellt wird. Ich bin in einem jungen Alter von zu Hause
       ausgezogen und musste schnell lernen, wie man überlebt. Ich musste mein
       authentisches Selbst finden und sein – ohne viel Hilfe.
       
       Meine Mutter war immer auf meiner Seite, aber auf die Unterstützung meines
       Vaters oder meiner restlichen Familie konnte ich nicht zählen. Ich bin
       Predigerkind und in der Baptistenkirche aufgewachsen mit strengen
       religiösen Lehren. Die haben mich zurückgehalten, die Person zu sein, die
       ich eigentlich bin. Zudem war ich viel allein. In „Pose“ wird viel vom
       Familienleben in der Ballroom-Szene gezeigt. Aber für mich, obwohl ich in
       einem House war, war es nicht so familiär, wie es in „Pose“ ist. Ich fühlte
       mich isolierter.
       
       Haben Sie in Ihrem House eine neue Familie gefunden? 
       
       Ich bin erst mit 17 einem House beigetreten. Damals war das „The House of
       Rodeo“. Mit 19 wurde ich Mutter dieses House – und damit die jüngste Mutter
       in der Szene von Los Angeles. Diesen Rekord halte ich bis heute, soweit
       ich weiß. Witzigerweise waren meine Kinder älter als ich. Das war eine
       Herausforderung. Aber ich gewann viele Trophäen in den Balls. Das hat viel
       für mein Standing getan.
       
       Was ist Ihre Lieblingskategorie bei Bällen? 
       
       „Vogueing“ wegen der Technik und „Face“ wegen des Glamour. Aber als
       Teilnehmerin habe ich die meisten Trophäen für „Realness“ gewonnen.
       „Realness“ wird heutzutage oft als Slang verwendet. Aber eigentlich
       bedeutet es, dass man für eine cisgender Person gehalten wird – also dass
       man „passt“. Es heißt: Ich bin „Realness“ und kann mich einfach in die Welt
       einfügen.
       
       „Pose“ ist in den USA enorm erfolgreich gewesen und hat zwei Golden Globes
       gewonnen. Hat das zu einem erneuten Interesse an der Ballroom-Szene
       geführt? 
       
       Auf jeden Fall. Das Gleiche passierte aber, als Madonna 1990 „Vogue“
       herausbrachte. Es gab einen großen Hype um die Szene, und plötzlich wollte
       jede*r zu einem Ball. Das sehen wir heute wieder, seit „Pose“ ausgestrahlt
       wird. Zum ersten Mal gibt es eine Serie mit fünf trans Frauen als
       Protagonist*innen. Das führt zu Neugierde auf diese Welt. Leute wollen
       wegen der Serie mehr über die Szene lernen.
       
       Haben Sie Angst, dass eine emanzipierende Gegenkultur, die von People of
       Color gegründet wurde, nun von einem weißen Mainstream kommerzialisiert
       wird? Auch das wird in der zweiten Staffel am Beispiel von Madonnas „Vogue“
       thematisiert. 
       
       In einer perfekten Welt – gäbe es eine – wären alle in der gleichen Szene
       zusammen. Farbe gäbe es nicht. Ja, die Ballroom-Szene wurde von Schwarzen
       Menschen und People of Color geschaffen – aber es ging um Akzeptanz für
       alle Menschen. Klar, wir dürfen nicht vergessen, wo die Ballroom-Szene
       herkommt. Wir müssen ihren Wurzeln treu bleiben. Aber Angst habe ich nicht.
       Hoffnung schon.
       
       Hat sich durch den Erfolg der Serie die Sichtbarkeit von trans Personen in
       der Film und Fernsehbranche verbessert? 
       
       „Pose“ hat einen Dialog gestartet – und das ist der erste Schritt, die
       Türen für alle zu öffnen. „Pose“, „Orange is the New Black“ und
       „Transparent“ sind nur drei Serien. Es gibt aber eine ganze Welt voller
       trans Frauen – und auch Männer, über die noch selten geredet wird. „Pose“
       gibt uns eine Plattform, Interviews wie dieses überhaupt machen zu dürfen.
       Und das ist nur der Anfang. Mein persönliches Ziel ist es, Platz für alle
       zu machen.
       
       Dabei scheint die Trump-Ära eine unwahrscheinliche Zeit für einen Boom von
       trans Erzählungen im Fernsehen. 
       
       „Pose“ wurde auch von dem Film „Paris is Burning“ inspiriert, der 1987
       gedreht wurde – auch das war eine Trump-Ära, zumindest in New York. Da
       besteht also auf jeden Fall eine Verbindung – und es ist interessant, zum
       Ausgangspunkt zurückzukehren, nun da Trump Präsident ist. Aber es ist auch
       schön, denn es zeigt: Trotz all des Hasses in der Welt sehen wir solche
       Figuren im Fernsehen – und verlieben uns in sie. Und man sieht, dass
       Menschen unfair behandelt werden, aber auch, dass sie das gar nicht
       verdient haben.
       
       Hollywood besetzt häufig trans Rollen mit cisgender Schauspielerinnen und
       Schauspielern. Finden Sie das problematisch? 
       
       Einerseits soll jede*r jede Rolle spielen dürfen. Aber es ist unfair, den
       trans Schauspieler*innen ihre Rollen wegzunehmen, bevor sie überhaupt die
       Chance hatten, sich selbst zu spielen. Es gibt so viele Schauspieler*innen,
       Produzent*innen, Autor*innen und Künstler*innen, die einfach keine
       Aussichten in der Branche haben. So lange, bis wir auch für cis Rollen
       vorsprechen dürfen, brauchen wir erst mal Raum. Ich setze diese Frage mit
       Blackfacing gleich. Es gab eine Zeit, wo Schwarze Künstler*innen sich
       selbst nicht spielen dürften. Weiße haben stattdessen ihre Gesichter dunkel
       bemalt und Schwarze Figuren auf herabwürdigende Weise gespielt.
       
       „Pose“ wurde aber von einem weißen cisgender Mann – Ryan Murphy – kreiert.
       Hat das eine Auswirkung auf die Authentizität der Serie? 
       
       Nein, und ich würde auch sagen: Die Serie wird von einem Kollektiv von
       Menschen getragen. Und in diesem Kollektiv gibt es unterschiedlichste
       Menschen. Es gibt Steven Canals, Janet Mock, Brad Falchuk, Lady J, Ryan
       Murphy – und auch uns Schauspieler*innen. Es braucht diese ganze Familie,
       um diese Geschichte wirklich zu erzählen. Und Ryan Murphy ist auch jemand,
       der die Geschichte richtig erzählen will. Er möchte authentisch sein – und
       bislang ist alles tatsächlich super geworden.
       
       Was wäre Ihre Traumrolle? 
       
       Ich will ein Bond-Girl sein. Ich mag das ganze Konzept. Ich liebe die
       Gefahr, den Sexappeal – und auch das Bad-Girl-Image. Aber ich wäre gern
       auch mal eine Marvel-Figur. Ich mag Rollen, die mich herausfordern. Eine
       eindimensionale Künstlerin möchte ich nicht sein. Ich will vieles
       gleichzeitig sein.
       
       29 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nicholas Potter
       
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