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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Aufbruchstimmung in der Schweiz
       
       > Am 20. Oktober wird in der Schweiz gewählt. Diesmal setzen nicht die
       > Rechtspopulisten von der SVP die Themen im Wahlkampf.
       
   IMG Bild: Mit Alpenblick: Bundeshaus in Bern
       
       Als die Ersten auf dem Platz der Schlusskundgebung eintreffen, sind viele
       noch nicht einmal losgelaufen: So lang ist die fröhlich-entschlossene
       Menge, die sich am 14. Juni 2019 durchs Zürcher Zentrum schlängelt. Rund
       150 000 sollen dabei gewesen sein, die meisten davon Frauen. An diesem
       sonnigen Freitag erstrahlt die ganze Stadt in Violett, der Farbe des
       Frauenstreiks – nach 1991 der zweite in der Schweizer Geschichte.
       
       Ob vor dem Berner Parlamentsgebäude, in kleineren Städten oder auf dem
       Land: Überall erheben Frauen, Queers und solidarische Männer ihre Stimme,
       insgesamt sind es über eine halbe Million. So viel Aufbruchstimmung
       herrschte in der sonst gemächlichen Schweiz schon lange nicht mehr.
       
       Das Jahr 2019 ist schon jetzt das Jahr der Veränderung, was einer weiteren
       Bewegung zu verdanken ist: der Klimajugend, wie die Fridays-for-Future-Kids
       hier heißen. Zuletzt marschierten in Bern am 29. September mehr als 100 000
       Menschen mit. Die Großkundgebung fand drei Wochen vor den eidgenössischen
       Wahlen statt. Wer wissen will, was progressive Kräfte dabei zu erwarten
       haben, muss die Frauen- und die Klimabewegung in den Blick nehmen – und den
       möglichen Niedergang der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei
       (SVP) analysieren, der wiederum mit den beiden ersten Faktoren
       zusammenhängt. Diese Konstellation könnte die Mehrheitsverhältnisse
       durcheinanderwirbeln.
       
       Dass sich die Frauen in diesem Sommer so kampfbereit zeigten wie lange
       nicht mehr, hat viele Gründe. In Sachen Gleichstellung ist die Schweiz,
       eines der reichsten Länder der Welt, vergleichsweise rückständig. Erst seit
       1971 dürfen Frauen überhaupt wählen, im Kanton Appenzell-Innerrhoden
       erhielten sie sogar erst Anfang der 1990er Jahre das Stimmrecht. Bis 1988
       brauchten Frauen die Erlaubnis ihres Ehemanns, um arbeiten zu gehen oder
       ein Bankkonto zu eröffnen. Auch in der Kinderbetreuung hinkt das Land
       hinterher: Laut einer OECD-Studie von 2017 muss eine Familie mit zwei
       Kindern 26 Prozent des Nettolohns für die außerhäusliche Betreuung
       aufwenden – im europäischen Durchschnitt sind es 10 Prozent.
       
       ## Initiative für 36 Wochen Elternzeit
       
       Die Forderungen am Frauenstreik reichten von günstigerer Kinderbetreuung
       über gleiche Löhne bis zum konsequenteren Vorgehen gegen sexualisierte
       Gewalt. Und es kandidieren so viele Frauen wie noch nie für das Parlament.
       Die sozialdemokratische Kantonalsektion Zürich hat den Schwung der
       Frauenbewegung ebenfalls genutzt: Sie hat soeben eine Initiative für 36
       Wochen Elternzeit gestartet, auch auf nationaler Ebene ist ein ähnliches
       Volksbegehren angekündigt. Zurzeit gibt es nur den Mutterschutz von 14
       Wochen, und der Vaterschaftsurlaub wurde kürzlich von einem Tag auf zwei
       Wochen verlängert.
       
       Von dem zweiten großen Wahlkampfthema dürften vor allem jene Parteien
       profitieren, die sich den Kampf gegen die Erderwärmung auf die Fahne
       geschrieben haben: die Grünen sowie ihre Abspaltung, die Grünliberalen.
       Letztere versuchen sich in der Quadratur des Kreises, fordern einen
       ökologischen Umbau, ohne dabei die Glaubenssätze des freien Markts infrage
       zu stellen. In der Sozial- und Finanzpolitik vertritt ihre gutsituierte
       Mitgliederschaft rechte Positionen, wie einen rigiden Sparkurs bei den
       Bundesfinanzen und eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre.
       
       Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Kehrtwende, die die
       neoliberale FDP vollzogen hat. Wurde ihr Parteikürzel von der Klimajugend
       vor Kurzem noch mit „Fuck de Planet“ übersetzt, stellte sich bei einer
       Befragung der Basis heraus, dass diese deutlich grüner eingestellt ist als
       die Fraktion in Bern – woraufhin Parteichefin Petra Gössi, die die Umfrage
       in Auftrag gegeben hatte, bei der nächsten Versammlung den Delegierten
       zurief: „Die Umweltpolitik ist für mich eine Herzensangelegenheit geworden.
       Aber eine mit liberaler Signatur!“
       
       Die FDP unterstützt neuerdings auch ein Gesetz zur Kohlendioxidreduktion,
       das im Parlament letztes Jahr noch am Widerstand der Liberalen gescheitert
       war. Es enthält ein faktisches Verbot für Ölheizungen, eine bescheidene
       Erhöhung des Benzinpreises sowie eine Flugticketabgabe: Vollständig
       ausgeklammert bleibt der Finanzplatz. Laut Greenpeace finanzieren die
       Großbanken UBS und Credit Suisse mit jährlichen Krediten von mehr als 12
       Milliarden Franken die Förderung fossiler Brennstoffe.
       
       ## Die SVP leugnet menschengemachten Klimawandel
       
       Die SVP ist die einzige Partei, die den menschengemachten Klimawandel immer
       noch leugnet: „Auf die schrille Panikmache soll der sozialistische Umbau
       unserer Gesellschaft folgen“, warnte etwa Parteipräsident Albert Rösti im
       Parteiorgan Extrablatt – unter einer Illustration, auf der sich ein roter
       Teufel hinter einer grünen Maske versteckt. Obsessiv arbeitet sich auch die
       parteinahe Zeitschrift Weltwoche an den wissenschaftlichen Erkenntnissen
       zur Erderwärmung und der jungen Galionsfigur der internationalen
       Klimabewegung, Greta Thunberg, ab.
       
       Die Haltung der SVP kollidiert dabei zunehmend mit der Realität. Einst aus
       einer Bauern- und Gewerbepartei hervorgegangen, gehören heute immer noch
       viele Landwirte zur Basis. Doch angesichts der extrem trockenen letzten
       Sommer, die der Landwirtschaft massiv zusetzen, sind immer weniger bereit,
       die ignorante Haltung der SVP-Spitze mitzutragen.
       
       Wahlen bringen in der Schweiz selten große Verschiebungen, weil sich die
       politische Landschaft nicht in Regierung und Opposition trennen lässt.
       Regiert wird nach dem Prinzip der Konkordanz, bei dem alle wichtigen
       Strömungen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden sollen. In der
       siebenköpfigen Regierung sind daher alle großen Parteien vertreten: die
       Freisinnigen wie ihr historischer Widerpart, die christliche Volkspartei
       (CVP), dann die Sozialdemokratische Partei (SP), die innerhalb Europas
       vergleichsweise links ausgerichtet ist, und schließlich die SVP. Nur die
       grünen Parteien sind nicht dabei – noch nicht.
       
       Das Parlament in Bern wiederum ist in zwei Kammern – Nationalrat und
       Ständerat – unterteilt: Im Nationalrat sitzen die Abgeordneten der
       Parteien, und der Ständerat vertritt die Kantone. Zu Beginn der
       Legislaturperiode fabulierten FDP und SVP, die in den letzten vier Jahren
       über eine knappe Mehrheit im Nationalrat verfügten, mit der CVP über einen
       „bürgerlichen Schulterschluss“ – und setzten als erste Maßnahme
       Steuergeschenke für die Unternehmen durch. Nachdem die EU-Kommission schon
       länger eine Aufhebung der privilegierten Besteuerung ausländischer
       Holdinggesellschaften gefordert hatte, lösten die bürgerlichen Parteien das
       Problem, indem sie die Unternehmenssteuersätze insgesamt senkten. Daraufhin
       initiierten SP, Grüne und Gewerkschaften dagegen ein Referendum und
       gewannen deutlich.
       
       ## Gestärkte Sozialdemokraten im Ständerat
       
       Der Ständerat, die kleinere Kammer des Parlaments, galt lange als
       konservativ. Doch heute sind die Sozialdemokraten hier so stark wie
       nie, die systematisch die Vorstöße der SVP torpedieren. So konnte der
       Ständerat beispielsweise verhindern, dass Ausländer, die in der Schweiz
       aufgewachsen sind, bei einem Strafurteil automatisch des Landes verwiesen
       werden.
       
       Um diese Zweiklassenjustiz, bei der Menschen mit und ohne Schweizer Pass
       unterschiedlich bestraft werden würden, doch noch in der Verfassung zu
       verankern, hatte die SVP die sogenannte Durchsetzungsinitiative lanciert.
       Dagegen regte sich 2016 ein nicht gekannter Widerstand. Mittels
       Crowdfunding wurde Geld gesammelt, um die Werbemacht der Partei im
       öffentlichen Raum zu brechen. Das breite gesellschaftliche Bündnis
       entwaffnete den ausländerfeindlichen Diskurs der SVP mit den Argumenten des
       demokratischen Rechtsstaats. Erstmals wurden die Rechtspopulisten bei ihrem
       Kernthema Migration deutlich geschlagen; seither wirkt die erfolgsverwöhnte
       Partei sichtlich irritiert.
       
       Im europäischen Vergleich gehört die SVP zu den ältesten
       rechtspopulistischen Parteien. Ihren Durchbruch erzielte sie im Dezember
       1992, als die Schweiz den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)
       knapp ablehnte. Seither bediente sich die SVP der Mittel der direkten
       Demokratie, um ihre xenophobe und islamfeindliche Politik wie etwa ein
       Verbot von Minaretten durchzusetzen. Auch wenn die SVP-Führung auf Abstand
       zu anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa ging – ihre aggressiven
       Plakatsujets wurden dafür umso häufiger im Ausland kopiert.
       
       Kaum ein Thema im Wahlkampf ist bislang die Außenpolitik. Die Verhandlungen
       mit der EU über ein Rahmenabkommen sind momentan auf Eis gelegt. Der
       Vertrag soll die bestehenden bilateralen Abkommen bündeln, unter anderem
       mit einem Schiedsgericht bei Rechtsstreitigkeiten. Die linken Parteien und
       die Gewerkschaften, die grundsätzlich einen proeuropäischen Kurs verfolgen,
       lehnen es in der bisherigen Form ab, weil es den Schweizer Lohnschutz
       untergrabe.
       
       ## Schweizer Lohnschutz als Vorbild für Europa
       
       Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit wurden in der Schweiz nämlich
       wirksame Instrumente gegen Lohndumping geschaffen, wie regelmäßige
       Kontrollen auf Baustellen oder Kautionen für ausländische Firmen, die
       einbehalten werden, wenn diese gegen den Lohnschutz verstoßen. Die
       europäischen Gewerkschaften unterstützen diesen Kurs: „Der Schweizer
       Lohnschutz ist ein Vorbild für Europa“, sagte etwa der Generalsekretär des
       Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB), Luca Visentini, in mehreren
       Interviews. Angesichts der Brexit-Wirren und der hakeligen Kandidatensuche
       für die neue EU-Kommission hat das Abkommen mit der Schweiz zurzeit nur
       geringe Priorität.
       
       Nachdem auch die Schweiz 2018 ihr berühmtes Bankgeheimnis abgeschafft hat
       und sich mit 100 Staaten dem automatischen Informationsaustausch (AIA) von
       Finanzdaten anschloss, hat der äußere Druck auf die Schweiz bei
       Steuerthemen etwas nachgelassen. Volkswirtschaftlich geht es dem Land
       weiterhin glänzend, mit einer Arbeitslosenquote von 2,1 Prozent herrscht de
       facto Vollbeschäftigung. Die große Leerstelle in der Diskussion ist
       allerdings, dass der Wohlstand der Schweiz zu einem beträchtlichen Teil auf
       der Ausbeutung des globalen Südens beruht: [1][Rohstoffmultis wie Glencore
       profitieren von den niedrigen Unternehmenssteuern].
       
       Die globale Verantwortung der Schweiz bringt nun erstmals die von
       verschiedenen entwicklungspolitischen Organisationen lancierte
       Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) aufs Tapet. Sie fordern, dass in der
       Schweiz ansässige Konzerne und deren Tochterfirmen für
       Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden, die sie im Ausland begehen,
       haftbar gemacht werden können. Die Abstimmung ist für 2020 vorgesehen. Die
       Wirtschaftsverbände bearbeiten die Parlamentarier schon seit Monaten, die
       Vorlage abzuschwächen. Dass jedoch auch die „Kovi“ in der Bevölkerung ein
       hohes Ansehen genießt, zeigt, dass in der Schweiz ein anderer Wind weht.
       
       Nach den letzten Umfragen dürften Grüne und Grünliberale am 20. Oktober je
       rund 3 Prozent gewinnen, die übrigen Parteien verlieren, am deutlichsten
       SVP und CVP. Wenn sich dadurch ein Dutzend Mandate von rechts in die Mitte
       und nach links verschieben, wäre das zwar noch kein Erdbeben. Aber es würde
       immerhin neue Allianzen für sozial-, gesellschafts- und klimapolitische
       Fortschritte ermöglichen.
       
       © LMd, Berlin/Zürich
       
       17 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!525500
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Jikhareva
   DIR Kaspar Surber
       
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