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       # taz.de -- Was tun gegen die Erderwärmung: Zehn Gebote gegen Klimasünden
       
       > Extinction Rebellion hat Recht: die Erderwärmung ist besorgniserregend,
       > Endzeitstimmung ist angesagt. Aber wer ist der Adressat des Jüngsten
       > Gerichts?
       
   IMG Bild: Extinction Rebellion am 11. Oktober in London
       
       Berlin: In wallende rote Gewänder gekleidet schreiten schweigende Gestalten
       durch die Straßen. Einige von ihnen tragen rote Fahnen, auf ihnen eine
       stilisierte Sanduhr. Hamburg: Über die neue Promenade ergießt sich rotes
       Kunstblut, inmitten der Lake ein weißer Sarg, ebenfalls mit einer Sanduhr
       versehen. Nein, wir sind nicht versehentlich in der Karwoche in Sevilla
       gelandet, bei der Hunderte in violetten Büßergewändern durch die Stadt
       prozessieren und um die Vergebung ihrer Sünden bitten. Es handelt sich um
       Protestformen der Gruppe [1][Extinction Rebellion (XR)], die unter anderem
       Anfang Oktober einige Straßenblockaden in Berlin organisiert hat, um auf
       das globale Artensterben aufmerksam zu machen.
       
       Nichtsdestotrotz ist der Vergleich mit Büßerprozessionen nicht ganz weit
       hergeholt. XR bemüht die martialische Bildwelt gern, zum Beispiel, wenn
       Galgen aufgestellt werden, unter denen Demonstranten auf schmelzenden
       Eisblöcken stehen. So weit, so mittelalterlich. Mit dem Unterschied, dass
       das Ganze in High-Quality-Videoclips voller hoch emotionalisierter
       Affektbilder auf Instagram zu sehen ist. Der Social-Media-Auftritt? Maximal
       professionell. Die Bildsprache? Maximal messianisch-religiös. Die Inhalte?
       Ihr werdet alle sterben.
       
       Es kann sein, dass vor Ort alles sehr nett ist, es kann sein, dass [2][die
       Initiative noch jung ist und sich erst finden muss]. Aber es darf gefragt
       werden, wohin sie steuert.
       
       Bei XR kann jeder mitmachen, der sich einem Konsens von 10 Geboten
       verpflichtet, unter anderem dem Gebot der „Gewaltfreiheit“. Welchen
       Gewaltbegriff XR hat, bleibt dabei schleierhaft. Parolen wie „The day of
       reckoning will come“ oder „Stand with the earth“ erinnern an die biblische
       – sehr gewaltvolle – Apokalypse des Johannes. Wer nicht für mich ist, ist
       gegen mich, und der Tag des Jüngsten Gerichts wird kommen. Die Sanduhr
       läuft ab, und zwar zwingend. Damit inszenieren sich die Aktivisten als
       Propheten eines nahenden Endes der Welt. Die Natur ist Gott, und ihr muss
       man sich beugen.
       
       ## Mutter-Erde-Metaphern
       
       Die Rebellion gegen das Artensterben mag ehrenhaft sein. Sie gleitet
       allerdings mitunter ins Esoterische ab. [3][Bei den Blockaden in Berlin]
       gibt es die Möglichkeit, für die Erde zu meditieren. Alte
       Mutter-Erde-Metaphern treten an die Stelle eines kritischen Feminismus, der
       uns vor allem eines gelehrt hat: Was Natur ist, ist menschliche
       Konstruktion. Welche Natur will XR schützen? Rebellion gegen das
       Artensterben um ihrer selbst willen? Oder Rebellion gegen das Artensterben,
       weil die Lebensgrundlage des Menschen vernichtet wird?
       
       Dass der Mensch die Natur in Ansätzen beherrschen gelernt hat, ist ein
       Fortschritt, hinter den eine progressive Bewegung nicht zurückfallen
       sollte. Und ohne technischen Fortschritt ist die gerechte, klimafreundliche
       und ausbeutungsfreie Gesellschaft auch nicht zu denken. Wer das infrage
       stellt, sehnt einen Steinzeitkommunismus herbei, in dem wir uns wieder
       selbstversorgend vom Schweiß des Ackers ernähren und eine Lebenserwartung
       von knapp vierzig Jahren haben, Säuglingssterblichkeit inklusive. In
       manchen Teilen der Umweltbewegung wirkt es, als seien der technische
       Fortschritt und der Mensch an sich das Problem, da sie das Artensterben
       verursachen würden. Hier muss letztlich der emanzipierte Mensch unsichtbar
       werden, er muss verschwinden, so wie die sündigen Büßer unter ihren
       Gewändern.
       
       Ja, die Erderwärmung ist besorgniserregend, Endzeitstimmung scheint
       angebracht. Aber wer ist der Adressat des Jüngsten Gerichts? Die Bilder,
       die die [4][Anti-Kohlekraft-Bewegung Ende Gelände] produziert, scheinen
       ebenfalls der Apokalypse zu entstammen: Aktivisten in weißen Anzügen
       schlittern durch sandige Wüsten, über ihnen bäumen sich gigantische
       Kohlebagger auf, umringt von Robotercops. Das ist die Realität 2019, auf
       die Ende Gelände den medialen Fokus richtet: Eine Marslandschaft, geopfert
       dem Konzernprofit. Ende Gelände legt den Finger in die Wunde und adressiert
       einen sorgfältig abgeschirmten konkreten Akteur der Klimakrise: RWE. Der
       Kampf um Klimaschutz ist kein individueller Ablasshandel. So erscheint er
       aber oft bei Gruppen wie XR.
       
       Der einzelne Mensch an sich ist nicht der Hauptverursacher der Klimakrise.
       Anders gefragt: Wo soll eine Hartz-IV-Mama den Gürtel noch enger schnallen?
       Wie soll der Pendler in die Stadt, um Lohn zu erarbeiten, wenn der ÖPNV so
       miserabel ist? Die Verzichtslogik bei Umweltgruppen wie XR kommt im
       Büßergewand daher, und das passt auch zur Inszenierung der Proteste.
       
       ## „Sagt die Wahrheit“
       
       Die Aktivisten weisen zwar darauf hin, dass der Kollaps von Ökosystemen
       auch das Aussterben des Menschen zur Folge haben wird. Die Klimakrise wird
       aber nicht gelöst werden, wenn man so tut, als seien alle Menschen in
       gleicher Weise „Klimasünder“ und müssten einfach nur Abbitte leisten. Die
       Klimakrise wird nicht überwunden werden, wenn Wirtschaft und Verteilung des
       Reichtums unangetastet bleiben. Das gehört zur Wahrheit, und „Sagt die
       Wahrheit“ ist schließlich eine der drei Kernforderungen von XR.
       
       Eine weitere Forderung ist der Vorschlag, direktdemokratische
       Bürgerversammlungen in die parlamentarische Demokratie einzubetten.
       Partizipative Demokratie würde in solchen Versammlungen simuliert werden,
       wirklich zu entscheiden gäbe es nichts, denn die Versammlungen wären
       verfassungstechnisch nicht angekoppelt an das System der parlamentarischen
       Demokratie. Sie würden vermutlich als inszenatorisches Feigenblatt von
       etablierten politischen Funktionsträger benutzt, sich besonders bürgernah
       zu geben.
       
       Außerdem stellt sich die Frage, wer denn wahrscheinlich zu den
       Bürgerversammlungen gehen würde, die sich XR ausmalt. Statistisch ist
       belegt, dass die Unterschicht einerseits im Parlament qualitativ schlechter
       repräsentiert ist und andererseits Partizipationsangebote seltener
       wahrnimmt als die Mittel- und Oberschicht. Die Nichtpräsenz der
       Unterschichten auf der politischen Bühne würde sich also noch mal
       verstärken, wenn man politisches Geschehen in simulative
       Partizipationsspielwiesen verlagert.
       
       Grundsätzlich betrachtet geht die Frage nach der Entscheidungsgewalt aber
       in die richtige Richtung. Wer entscheidet? Wer entscheidet über
       Wirtschaftsprozesse? Wie kann es gelingen, dass die Wähler gewählte
       Abgeordnete während ihrer Amtszeiten weiterhin kontrollieren? Wie kann
       demokratisiert werden abseits eines einmaligen Wahlgangs alle vier bis fünf
       Jahre?
       
       ## Eklatantes Versagen
       
       Vor diesem demokratiepolitischen Hintergrund ist das Vertrauen von Gruppen
       wie XR in Autoritäten allerdings mehr als erstaunlich. In den vergangenen
       Legislaturen war die Klimapolitik der Regierungen von eklatantem
       politischen Versagen geprägt. Zum Beispiel wurden in den vergangenen Jahren
       zehntausende Stellen im Bereich Windkraft abgebaut, gleichzeitig wird die
       Kohle krampfhaft gehalten, trotz endender Laufzeiten. Von einem visionären
       Programm der Regierungsparteien, wie Arbeiter aus der Kohleförderung ihre
       Arbeitsplätze an anderer Stelle wiedergewinnen können, ist nichts in Sicht.
       Dies würde massive Investitionen verlangen, Finanzminister Olaf Scholz hält
       derweil krampfhaft an der schwarzen Null fest.
       
       Wenn wir die Klimakrise zugunsten einer besseren, gerechteren Gesellschaft
       überwinden wollen, müssen wir über Wirtschaft sprechen – und über
       Demokratie.
       
       Eine visionäre wirtschaftspolitische Strategie zu entwickeln, ist nicht die
       Aufgabe von Aktivisten bei XR oder Ende Gelände. Es ist zuvörderst Aufgabe
       gewählter und damit beauftragter Volksvertreter und ihres Expertenstabs.
       Aber die Aktivisten senden entsprechende Zeichen aus der Zivilgesellschaft
       – und benennen dadurch Probleme. Ende Gelände legt die Kohlebagger im
       Rheinischen Braunkohlerevier lahm, plötzlich sind Bilder in den Medien, die
       das ganze Ausmaß der profitorientierten Naturzerstörung und das politische
       Versagen in diesem Bereich zeigen. XR blockiert zentrale
       Verkehrsknotenpunkte in Berlin und zeigt damit – ja, was? Dass der Pendler
       ein Klimasünder ist und für das Artensterben verantwortlich? Was ist dann
       die politische Forderung? Für wen wird hier eigentlich Partei ergriffen?
       
       XR inszeniert sich unparteiisch, quasi religiös der ablaufenden Sanduhr
       verpflichtet. Wer gegen den Klimawandel ankämpft, muss aber zwingend
       parteiisch sein: Der Klimawandel trifft die Ärmeren zuerst und am
       härtesten. Die haben ihn aber gar nicht hervorgebracht. Die
       Endzeitstimmung, die XR durch ihre Inszenierung hervorruft, die auf den
       Menschen als Sünder abzielt, ist damit antiaufklärerisch. Statt religiös
       angehauchter Apokalypse brauchen wir dringend eine ermutigende Vision einer
       zukünftigen Gesellschaft. In dieser künftigen Welt wäre der exzessive
       Raubbau an der Natur beendet, technischer Fortschritt würde der Mehrheit
       zugute kommen und die Produktion wäre demokratisch kontrolliert. Im
       Zentrum einer solchen Erzählung von Gerechtigkeit kann aber nur einer
       stehen: der Mensch, der diese Welt schafft.
       
       26 Oct 2019
       
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