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       # taz.de -- Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger: Minus geht nicht
       
       > Darf eine Gesellschaft bei ihren Ärmsten kürzen? Die Debatte über
       > Sanktionen bewegt sich weit weg von der Realität vieler
       > Langzeitarbeitsloser.
       
   IMG Bild: Mühelos wird vergessen, wie kümmerlich die Hartz-IV-Sätze sind
       
       Auf den ersten Blick scheint das Thema Sanktionen gar nicht wichtig zu
       sein: In diesem Oktober gab es fast 3,8 Millionen erwerbsfähige
       Hartz-IV-Empfänger – aber fast niemand hatte so großen Ärger mit den
       Jobcentern, dass die Leistungen gekürzt worden wären. Sanktionen sind sehr
       selten, wie die Statistik zeigt: Im Jahr 2018 wurden nur 3,2 Prozent der
       Langzeitarbeitslosen abgestraft.
       
       Trotzdem ist die Frage fundamental, ob eine Gesellschaft bei ihren Ärmsten
       kürzen darf. Am Dienstag wird sich das Bundesverfassungsgericht damit
       befassen. Denn Hartz IV deckt definitionsgemäß nur das Existenzminimum ab:
       Wie also soll jemand existieren, wenn dieses Minimum nur teilweise
       ausgezahlt wird?
       
       Doch geht es nicht nur um bares Geld: Der Streit über die Sanktionen rührt
       auch an den ideologischen Kern der Hartz-Reformen, die unter dem Motto
       „Fordern und Fördern“ liefen. Es wurde also suggeriert, dass die
       Arbeitslosen selbst schuld seien, wenn sie keine Stellen haben. Die Idee
       war, dass schon ein paar Qualifizierungskurse ausreichen würden, um jeden
       Langzeitarbeitslosen mit einem Job zu versorgen.
       
       Diese heile Welt hat sich nie eingestellt. In Deutschland herrscht zwar
       fast Vollbeschäftigung, doch die Zahl der Langzeitarbeitslosen sinkt nur
       langsam. Vor allem bei den Älteren bewegt sich wenig: 69 Prozent von ihnen
       beziehen Hartz IV schon länger als vier Jahre.
       
       ## Alleinstehende erhalten derzeit 424 Euro im Monat
       
       Die Gesellschaft sollte akzeptieren, dass nicht jeder in der Lage ist, sich
       in den Turbo-Kapitalismus einzufinden. Statt diese Menschen mit Sanktionen
       zu belegen, sollte es einen sozialen Arbeitsmarkt geben, der
       Langzeitarbeitslose auffängt.
       
       Sanktionen werden gern mit dem Argument verteidigt, dass Hartz IV sonst zu
       einem „Grundeinkommen“ würde. Es grassiert die Angst, dass sich
       Erwerbsfähige freiwillig in die „soziale Hängematte“ abmelden könnten.
       Dieses Misstrauen wird von einem seltsamen, aber sehr gängigen Reflex
       gespeist: Ausgerechnet den Armen wird dekadente Sorglosigkeit angedichtet.
       
       Mühelos wird vergessen, wie kümmerlich die Hartz-IV-Sätze sind.
       Alleinstehende erhalten derzeit 424 Euro im Monat. Für Kinder zwischen 6
       und 13 Jahren gibt es 302 Euro. Mit diesen Minibeträgen kann nur überleben,
       wer regelmäßig bei den Tafeln ansteht. Der Paritätische Wohlfahrtsverband
       fordert schon lange, dass die Hartz-Sätze um mindestens 37 Prozent steigen
       sollten.
       
       Leider ist nicht zu hoffen, dass die Hartz-IV-Sätze demnächst zulegen: Das
       Bundesverfassungsgericht hat bereits geurteilt, dass sie das
       Existenzminimum absichern. Jetzt wird nur noch entschieden, ob es beim
       Minimum ein Minus geben darf.
       
       4 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
       
       ## TAGS
       
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