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       # taz.de -- Gedenken der NSU-Opfer in Zwickau: Nichts ist klar
       
       > Vor acht Jahren flog der NSU auf. Das Erinnern an die zehn Mordopfer in
       > Zwickau zeigt, wie wenig aufgearbeitet die Terrorserie ist.
       
   IMG Bild: Widerstand gegen AfD Kranz bei der Einweihung der Gedenkstätte in Zwickau
       
       In Zwickau stehen seit diesem Wochenende zehn Gedenkbäume im
       Schwanenteichpark. An Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü,
       Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet
       Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Den zehn Mordopfern des
       „Nationalsozialistischen Untergrunds“, erschossen zwischen 2000 und 2007.
       Es ist ein Zeichen, dass Zwickau diese Menschen nicht vergessen will.
       Menschen, die starben, auch weil sich die NSU-Rechtsterroristen jahrelang
       unerkannt in Zwickau aufhalten konnten. Es ist ein überfälliges Zeichen.
       
       Denn es ist inzwischen genau acht Jahre her, dass die Rechtsterrorserie
       aufflog – als sich in Eisenach Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem
       gescheiterten Bankraub erschossen und Beate Zschäpe in Zwickau den letzten
       Unterschlupf in die Luft jagte. Am Montag besuchte deshalb Bundeskanzlerin
       Angela Merkel die Zwickauer Gedenkbäume und legte Blumen ab. „Wir werden
       alles tun, damit sich so etwas nicht wiederholt“, sagte Merkel. Sachsens
       Ministerpräsident Michael Kretschmer geißelte die „furchtbare,
       menschenverachtende Ideologie“ des Rechtsextremismus. Auch dies: ein
       deutliches Zeichen, klare Worte.
       
       [1][Nur leider ist bei der NSU-Aufarbeitung, acht Jahre „danach“, nur wenig
       so klar.] Und die Gedenkbäume in Zwickau legen dies schonungslos offen.
       
       Es ist bereits vielsagend, dass die Stadt so viele Jahre brauchte, um diese
       Bäume aufzustellen. Lange wurde das Thema NSU in der Stadt nicht angefasst.
       Die CDU warnte vor einem Stigma für Zwickau, die AfD unterschrieb bis
       zuletzt ein Memorandum zum NSU-Opfergedenken nicht. Als BürgerInnen 2016
       Gedenkbänke aufstellten, wurden diese sofort zerstört. Gleiches geschah vor
       wenigen Wochen [2][mit einem ersten gepflanzten Baum für Enver Şimşek]. Die
       Stadt wiederum befragte die Opferangehörigen erst gar nicht, was sie von
       der Pflanzaktion halten, lud sie auch nicht zur Gedenkfeier ein. Gamze
       Kubaşık, Tochter des Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık, spricht von
       einer „Unverschämtheit“.
       
       Als die Bäume nun am Sonntag eingeweiht wurden, waren die zehn Opfernamen
       auf den Gedenkplatten nur „eingedeutscht“ geschrieben. Auch legte die AfD
       nun doch einen Kranz nieder. Einige TeilnehmerInnen empfanden dies als
       Provokation: von einer Partei, die Rassismus befeuert und deren Vertreter
       den NSU-Prozess einst als „Schauprozess“ verunglimpfte. Eine Frau schnitt
       das AfD-Band ab, die Polizei nahm sie vorübergehend fest und löste so einen
       Tumult aus. Ein NSU-Opfergedenken, das die Opfer brüskiert: Es ist ein
       Sinnbild.
       
       ## Abgeschreckt fühlt sich keiner
       
       Denn es ist ja nicht nur Zwickau. Auch in Thüringen wurde vor Jahren schon
       eine NSU-Mahnstätte beschlossen, es gibt sie bis heute nicht. Gleiches in
       Köln. Und auch in Kassel, Heilbronn, Nürnberg oder Rostock wurden
       Gedenkplatten an die Opfer zerstört. Es ist also schon zu viel, unschuldig
       Ermordeten zu gedenken. Das ist infam.
       
       Dazu sind bis heute sind zentrale Fragen zum NSU-Terror ungeklärt – allen
       voran, wie groß und verzweigt die Gruppe überhaupt war. Auch der gerade zu
       Ende gegangene NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen konstatierte, dass
       man nicht alles aufarbeiten konnte. Merkel legte auch hier mal ein
       Versprechen ab, dass Deutschland alles für die Aufklärung tun werde. Die
       Realität ist: Es wird wohl nicht mehr dazu kommen.
       
       Und so laufen weiter NSU-Helfer unangetastet in diesem Land herum. Selbst
       die, die verurteilt wurden, sind vorerst weiter auf freiem Fuß – außer dem
       NSU-Waffenlieferanten Carsten S., der als einziger dem Rechtsextremismus
       abgeschworen hat. Andere, wie Ralf Wohlleben oder der Zwickauer André
       Eminger, sind längst zurück in der Szene. Anklagen gegen andere Helfer sind
       nicht mehr in Sicht. Abgeschreckt? Fühlt sich hier keiner.
       
       Im Gegenteil ist der Rechtsextremismus in diesem Land so tödlich wie lange
       nicht. Schon drei Menschen fielen ihm in diesem Jahr zum Opfer: [3][Walther
       Lübcke in Kassel], [4][Jana L. und Kevin S. in Halle]. In Chemnitz rotteten
       sich Neonazis zu einer Terrortruppe zusammen, im Internet tobt der Hass.
       Dass in Deutschland Rechtsterroristen dreizehn Jahre unerkannt in
       Deutschland morden und Anschläge verüben konnten, scheint längst Historie –
       dabei ist das Helfernetzwerk nicht zerschlagen und die Wiederholungsgefahr
       größer denn je.
       
       Wenn aber nun nicht mal das Gedenken an die Opfer unstrittig ist, wenn
       bereits die Angehörigen vergessen werden, selbst wenn es um das Gedenken an
       ihre Eltern, Geschwister oder Kinder geht, wenn man jetzt schon bangen
       muss, wie lange die Bäume in Zwickau diesmal überhaupt stehen bleiben –
       dann gibt es ein Problem.
       
       Es war Gamze Kubaşık, die am Ende des NSU-Prozesses in München sagte, es
       werde wohl so bleiben, dass ihre Familie „ein Leben lang mit quälenden
       Fragen leben muss“. Sie habe mal die Hoffnung gehabt, dass es Gewissheit
       und wieder Sicherheit geben werde. „Diese Hoffnung gibt es nicht mehr. Wir
       werden wahrscheinlich nie zur Ruhe kommen.“
       
       Heute muss man sagen: Gamze Kubaşık hat wohl leider recht. Und das ist eine
       bittere, ja untragbare Bilanz, acht Jahre nach Auffliegen des NSU.
       
       4 Nov 2019
       
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