# taz.de -- Dokumentarfilmfestival in Leipzig: Ein Thriller über den Sturm
> Geschichten erzählen ist ein starker Trend beim Dokumentarfilmfestival
> DOK Leipzig. Geehrt wurde der Defa-Dokumentarfilmer Eduard Schreiber.
IMG Bild: Aus dem Film „Bird Island“, Greifvogel in künstlicher Welt
Skeptisch beäugt der Vogel die Apfelscheibe. Vorsichtig arbeitet er sich
den Ast entlang näher heran, bis er den Apfel gerade ebenso erreicht, wenn
er sich über die gesamte Körperlänge seitwärts streckt. Sergio da Costa und
Maya Kosa dokumentieren in ihrem Film „L’île aux oiseaux“ (Die Vogelinsel)
die Arbeit in einer Vogelpflegestation.
Der junge Antonin wurde nach längerer Krankheit und Selbstisolation an die
Station verwiesen, um im Mikrokosmos der Station und ihrer Handvoll
Mitarbeiter wieder sozialen Umgang zu erlernen. Die Schratigkeit der
Menschen steht denen der Vögel in nichts nach. Paul, dessen
unerschöpflicher Vorrat an Karohemden verlässlich über dem Bauch spannt,
geht in Kürze in Rente und Antonin soll dessen Stelle übernehmen, soll
Mäuse und Ratten aufzüchten, die als Futter für die Vögel gedacht sind.
Die Behandlung der Vögel übernehmen Sandrine, die Tierpflegerin, und
Émilie, die Tierärztin der Station. Wie beiläufig dringen in „L’île aux
oiseaux“ die Veränderungen der Lebenswelt in den Mikrokosmos. Die
Verletzungen verändern sich, neue Probleme stellen sich ein.
Der Dokumentarfilm von Da Costa und Kosa verwebt dokumentarische Passagen
mit zusätzlich verfassten Texten, vor allem von Antonin, dem Protagonisten.
Damit markiert der Film beinahe schon einen Grenzfall des Dokumentarfilms
zum Spielfilm. Er liegt damit zugleich im Trend: Der Dokumentarfilm ist
narrativer geworden in den letzten 15 Jahren. Das zeigte sich auch im
übrigen Programm des diesjährigen Leipziger Festivals für [1][Dokumentar-
und Animationsfilm (DOK Leipzig]), wo „L’île aux oiseaux“ letzte Woche
seine internationale Premiere feierte.
## Ein Hof zieht über Land
Vor allem die vom Fernsehen koproduzierten Dokumentarfilme sind immer
stärker bemüht, ihr Material in eine Erzählung zu pressen. Das
eindrücklichste Beispiel war dieses Jahr Michał Bielawskis „The Wind – A
Documentary Thriller“ über einen Föhnwind in der polnischen hohen Tatra.
Bielawski montiert aus dem Material mehrerer Stürme eine Erzählung über den
Ausnahmezustand der Natur, der mit dem Auftreten des Windes einhergeht.
Menschen begehen Selbstmord oder drohen es an, Streitereien eskalieren.
Etwas weniger ausgeprägt ist die Narrativisierung in „The Royal Train“ des
österreichischen Regisseurs Johannes Holzhausen. Holzhausen folgt den
Bemühungen der Mitglieder des rumänischen Königshauses, nach dem Ende des
Kommunismus den Status der Monarchie wieder zu verbessern. In Wahrung der
Tradition unternimmt die Thronerbin mit ihrem Mann und Gefolge eine
Rundfahrt durch das Land im Hofzug. An den Bahnhöfen der Provinz treffen
die Einfahrt des Zuges und der Pomp des strengen Protokolls auf widrige
Umstände und Desinteresse, zugleich aber auch auf Freude am Spektakel.
Das Festival bot in unzähligen Reihen, deren Abgrenzung zueinander nicht
immer ganz klar wurde, einen Überblick über das aktuelle
Dokumentarfilmschaffen weltweit, aber traditionell mit einem Fokus auf
Osteuropa. Wer sich durch den unübersichtlichen Katalog wühlte, wurde mit
einer Vielzahl von dokumentarischen Formen aus Gegenwart und Vergangenheit
belohnt.
Eine ganze Reihe historischer Programme widmete sich in diesem Jahr dem
[2][Defa-Dokumentarfilmer Eduard Schreiber.] Zu den eindrücklichsten Filmen
Schreibers gehörte „Ich war ein glücklicher Mensch“. 1990, im Jahr der
Wiedervereinigung, porträtiert der Film den Journalisten Tilbert Eckertz,
der in der DDR wiederholt verhaftet wurde und dennoch unbeirrt am Glauben
an den Kommunismus festhielt. In Gesprächen mit Eckertz und seinen beiden
Töchtern werden die Konfliktlinien in der Familie und Eckertz’
Überzeugungen herausgearbeitet. Schreibers Film lässt sich auch als kluge,
subtile Intervention in die zeitgenössische Diskussion über die
Reformierbarkeit der DDR und Dissidenz verstehen.
## Verfolgung Andersdenkender
Ute Adamczewskis Film „Zustand und Gelände“, der den Preis des deutschen
Wettbewerbs gewann, verdichtet Bilder aus dem Sachsen der Gegenwart mit
einem Audiokommentar, in dem die Regisseurin schriftliche Zeugnisse aus der
Verfolgung Andersdenkender in der Frühzeit des Nationalsozialismus liest.
Im Fokus des Films stehen die frühen Konzentrationslager, die in Sachsen
durch den hohen Organisationsgrad der Arbeiterinnen und Arbeiter besonders
zahlreich waren. Die Kombination der Alltagsbilder und der Zeugnisse der
Gewalt im Audiokommentar zeichnen eine schleichende Brutalisierung nach.
Die Reise durch das Bundesland wird zu einer Spurensuche, die die
Allgegenwart nationalsozialistischer Gewalt sichtbar macht.
Der Fokus von DOK Leipzig lag auch in diesem Jahr auf den Dokumentarfilmen,
die Bandbreite von Animationsfilmen war deutlich geringer. Dabei hat sich
erneut gezeigt, dass die größte Formenvielfalt im Dokumentarfilm unter den
kürzeren Filmen zu finden ist. Während vor allem die vom Fernsehen
koproduzierten Anderhalbstünder zunehmend durchformatiert wirken und selbst
die positiven Beispiele einander unangenehm ähneln, sprießen die Formen bei
Filmen, die kürzer oder länger sind als die fernsehtauglichen 85 bis 88
Minuten.
Inmitten des Festivals wurde der Wechsel in der Leitung bestätigt. Die
finnische Produzentin Leena Pasanen geht und der ehemalige Leiter des
Berlinale-Forums, Christoph Terhechte, übernimmt 2020. Bleibt abzuwarten,
ob er neben der Rasenfläche des abendfüllenden Films auch die bunten
Blumenbeete der Formatvielfalt erhalten und eventuell ausbauen kann.
5 Nov 2019
## LINKS
DIR [1] /Dokumentarfestival-DOK-Leipzig/!5458205
DIR [2] https://absolutmedien.de/film/8029/EDUARD+SCHREIBER+-+Essayfilmer+der+DEFA
## AUTOREN
DIR Fabian Tietke
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